In jüngerer Zeit ist endlich auch das deutsche Feuilleton dahinter gekommen, dass der „kulturelle Marxismus“ den Marxismus Marx-Engels’scher Prägung längst abgelöst hat und auf andere, im Grunde unmarxistische Handlungsstrategien setzt. Diese haben die westliche Gesellschaft ganz ohne proletarische Gewaltanwendung, dafür aber um so wirksamer revolutioniert. In den USA hat man dafür den Begriff „Cultural Marxism“ geprägt.

Gastbeitrag von Prof. Dr. Johann Braun

Die Mühlen der Erkenntnis mahlen langsam, aber am Ende tritt nicht selten das zutage, was einsichtige Leute von Anfang an erwartet hatten. So ist in jüngerer Zeit endlich auch das deutsche Feuilleton dahinter gekommen, dass der „kulturelle Marxismus“ den Marxismus Marx-Engels’scher Prägung längst abgelöst hat und auf andere, im Grunde unmarxistische Handlungsstrategien setzt. Diese sind bereits seit langem am Werk und haben die westliche Gesellschaft ganz ohne proletarische Gewaltanwendung, dafür aber um so wirksamer revolutioniert. In den USA hat man dafür den Begriff „Cultural Marxism“ geprägt, der sich allmählich auch hierzulande durchsetzt.

Das Sein bestimmt das Bewusstsein

Worum geht es? Dem klassischen Marxismus zufolge bestimmt das Sein das Bewusstsein. Ein revolutionäres Bewusstsein kann nach dieser Auffassung nur dann entstehen, wenn die objektiven Verhältnisse für einen Umsturz reif sind. In einem solchen Fall bedarf es für eine Revolution nicht viel: Die Kapitalisten haben ihre ursprünglich progressive Funktion eingebüsst und sind zu blossen Profiteuren fremder Arbeit geworden. Im Grunde läuft der gesellschaftliche Produktionsprozess längst ohne sie ab. Sowie die arbeitenden Klassen dessen gewahr werden, brauchen sie nur die Expropriateure zu enteignen und ohne sie weiterzumachen. Das ist alles. Schon beim jungen Marx heisst es in diesem Sinn, dass Revolutionen „eines passiven Elementes“ bedürfen, „einer materiellen Grundlage“; die Theorie werde „in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist“. (MEW 1,386) Und Jahre später schreibt Marx: „Eine radikale soziale Revolution ist an gewisse historische Bedingungen der ökonomischen Entwicklung geknüpft; letztere sind ihre Voraussetzung. Sie ist also nur möglich, wo mit der kapitalistischen Produktion das industrielle Proletariat wenigstens eine bedeutende Stellung in der Volksmasse einnimmt.“ (MEW 18, 633)

Wie sich 1914 herausstellte, waren freilich selbst die Arbeiter des hochindustrialisierten Deutschen Reiches zu einem internationalistischen Schulterschluss nicht geneigt, sondern stellten sich hinter die nationale Staatsmacht. Noch weniger passte ins Konzept, dass die Oktoberrevolution von 1917 in einem Agrarstaat stattfand, der nach marxistischer Doktrin überhaupt nicht reif für einen ultimativen Umsturz war. Die russische Revolution wurde von einer kleinen Clique initiiert und mit Terror gegen breite Bevölkerungskreise durchgesetzt. Der Einsatz von Gewalt war hier keineswegs nur das Pünktchen auf dem i, das die Verhältnisse zum Kippen brachte, sondern das Mittel, mit dem eine revolutionäre Situation allererst erzeugt wurde.

Nicht alle Parteigänger der kommunistischen Bewegung haben daraus Konsequenzen gezogen, viele haben die Bedeutung dieser Vorgänge nicht im Ansatz erfasst, sondern die orthodoxen Formeln, als ob nichts geschehen wäre, unverändert heruntergebetet. Selbst noch die revoltierenden 68er Studenten faselten in ihrer Mehrheit weiterhin vom „Spätkapitalismus“, der sich demnächst selbst zerstören würde, und ähnliches hörte man auch aus der DDR bis hinein in ihre letzten Tage.

Verändertes Bewusstsein bestimmt das Sein

Aber es gab auch klügere Köpfe, die erkannten, dass die Welt auch auf andere Weise revolutioniert werden kann, als Marx und Engels sich dies vorgestellt hatten: Anstatt darauf zu warten, dass die Massen unter dem Einfluss veränderter Verhältnisse ein revolutionäres Bewusstsein entwickeln, konnte man deren Bewusstsein ganz unabhängig davon verändern; auch dies, geschickt eingefädelt, würde genügen, um eine Revolution auszulösen. Wenn man so will, wurde Marx mit dieser Volte von den Füssen auf den Kopf gestellt: nicht das Sein bestimmt das Bewusstsein, sondern das gezielt veränderte Bewusstsein schafft sich das Sein, das ihm adäquat ist. Das war zwar in der Methode nicht materialistisch und daher nicht marxistisch gedacht; das Ziel jedoch blieb unverändert dasselbe: die sozialistische Umwälzung der bisherigen Welt. Den Arbeiter als revolutionäre Klasse brauchte man dafür im Grunde nicht mehr; er wurde langsam aber sicher zur Folklore. Das eigentliche Ziel des internationalen Sozialismus war ohnehin nie die Befreiung einer bestimmten Klasse, sondern die der Menschheit als solcher gewesen. Der Arbeiter hatte dabei nur als Mittel zum Zweck gedient. Jetzt erkannte man, dass das Ziel einer von Grund auf veränderten Gesellschaft auch auf andere Weise zu erreichen war.

Um das Bewusstsein der Menschen im grossen Stil zu verändern, gibt es im Prinzip zwei Methoden: die Erziehung der Jungen und die mediale Indoktrinierung der Älteren, die ebenfalls auf eine Erziehung, wenn auch von Erwachsenen, hinausläuft. „Schule und Presse“, so liest man in einer der frühen Schriften Richard Coudenhove-Kalergis, „sind die beiden Punkte, von denen aus die Welt sich unblutig, ohne Gewalt erneuern und veredeln liesse. Die Schule nährt oder vergiftet die Seele des Kindes; die Presse nährt oder vergiftet die Seele des Erwachsenen.“ (Adel, 1922, 29) Von dieser Erkenntnis haben vor allem totalitäre Systeme exzessiv Gebrauch gemacht. Dass der Nationalsozialismus ein umfassendes Erziehungs- und Umerziehungssystem etablierte, ist sattsam bekannt. Aber auch im Rahmen des Neomarxismus setzte man primär auf die Beeinflussung des Denkens, weil man dahinter gekommen war, dass nicht nur – wie die sozialistischen Klassiker gelehrt hatten – die materiellen Verhältnisse das Denken prägen, sondern dass ebenso auch ein entsprechend verändertes Denken die materiellen Verhältnisse aus den Angeln zu heben vermag. Im Unterschied zu dem hemdsärmeligen Arbeitersozialismus herkömmlicher Prägung war dies eine Art „Sozialismus für feine Leute“, will sagen: für Gebildete, die sich nicht zu Barrikadenkämpfern, sondern zu Präzeptoren einer ihnen folgenden Masse von Ungebildeten berufen fühlten.

Marsch durch die Institutionen

Eine kritische Geschichte dieses „neuen Marxismus“ zu schreiben, wäre eine Aufgabe für sich. Lukács, Gramsci, Horkheimer, Adorno, Bloch, Herbert Marcuse, Habermas und andere haben dafür auf ihre Weise Material geliefert. Die revoltierenden 68er Studenten und ihre Mitläufer hielten es freilich zunächst mehr mit den Klassikern des Sozialismus und hofften auf einen Schulterschluss mit den „arbeitenden Massen“. Erst als die 68er Revolte in den siebziger Jahren abflaute, weil sie nicht die erhoffte Resonanz fand, verlegten sich viele auf eine „kulturmarxistische Strategie“, die langfristig mehr Erfolg versprach und in der Tat die deutsche Gesellschaft stärker verändern sollte, als es alle „Demos“, Strassenschlachten, Vorlesungsstreiks und sonstigen Aktionen zusammen getan hatten: Sie traten den „Marsch durch die Institutionen“ an. Das heisst, sie setzten sich das Ziel, ihre Ideen Schritt für Schritt in die Köpfe derer hineinzutragen, die noch von traditionellen Vorstellungen beherrscht waren, und so durch eine Veränderung des Bewusstseins vieler die Gesellschaft selbst zu verändern. Das ist der Grund, warum die überzeugten 68er später vornehmlich bei Lehrern und Hochschullehrern, Journalisten und Schriftstellern, Politikern und Richtern, Lektoren und Pastoren zu finden waren – kurz: bei allen, deren Aufgabe es ist, auf das Denken, Fühlen und Handeln ihrer Mitmenschen Einfluss zu nehmen. In diesen Positionen war es ein Leichtes, die überkommenen Vorverständnisse gegen andere auszutauschen und schliesslich sogar die Diskurshoheit in den Medien zu erlangen, die es gestattet, Themen nach Belieben auf die Agenda zu setzen oder herunterzunehmen und zu bestimmen, was wie gesagt werden darf und was nicht.

Lenkung des Denkens durch Lenkung der Sprache

Als wirksamstes Mittel der Gesellschaftsveränderung hat sich dabei die Herrschaft über die Sprache erwiesen. Tabus hat es zu allen Zeiten gegeben, weil man die wesentlichen Grundlagen einer Gesellschaft schon immer vor zersetzender Kritik bewahren wollte. Die moderne Political correctness jedoch ist ein Instrument, mit dem nach Gusto neue Tabus gesetzt werden können – nicht um die vorhandene Gesellschaft zu erhalten, sondern um sie in eine bestimmte Richtung zu verändern. Mit Hilfe sprachlicher Manipulation lassen sich Institutionen unterminieren und zu Fall bringen, ohne dass sich die ausführenden Akteure ihrer Verantwortung bewusst werden müssen. Denn die politisch korrekte Sprache ergreift zugleich vom Denken dessen Besitz, der sich ihren Anordnungen fügt, so dass er am Ende ganz von selbst in der gewünschten Weise denkt. Da Sprechverbote sich unter der Hand in verinnerlichte Denkverbote verwandeln, können die Menschen durch Sprachregelungen mental gesteuert werden. Wo die Political correctness ihre Herrschaft errichtet hat, bedarf es keiner Blockwarte mehr, die dafür sorgen, dass niemand den unsichtbaren Cordon gesellschaftlich akzeptierten Verhaltens durchbricht. Die Leute kontrollieren sich vielmehr selbst und achten genau darauf, dass sie ja nichts sagen, was Anstoss erregen könnte.

Auf diese Weise ist ein Sozialismus entstanden, der keine Proletarier mehr braucht, um die bürgerliche Gesellschaft zu zerschlagen. Dieses Geschäft wird vielmehr mit sprachlichen Mitteln erledigt. Der Furor des entfesselten Gleichheitsgedankens, der keine Unterschiede duldet, löst Staatsgrenzen und Nationen auf und stellt selbst die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Frage. Im Zuge der Emanzipation wird die Frau funktionell vermännlicht, Schwangerschaft wird zu einer Art Krankheit erklärt und Abtreibung firmiert als Menschenrecht. Damit rückt das Ende der Familie, der zentralen Institution der überkommenen Gesellschaft, in Sichtweite. Mit der „Öffnung“ der Ehe für Homosexuelle wurde auch die Liquidierung der Ehe eingeläutet: auf die Frage nach dem Sinn der Monogamie gibt es gegenwärtig keine Antwort mehr. Das lässt für die Zukunft weitere Änderungen auf diesem Gebiet erwarten, die in ihrer Gesamtheit der westlichen Kultur einen guten Teil ihres bisherigen Bodens entziehen werden. Die Arbeiter haben, wie erwähnt, als revolutionäre Klasse ausgedient. An ihrer Stelle sucht der kulturelle Sozialismus immer andere Minderheiten, zu deren angeblichem Schutz immer neue für die bisherige Gesellschaft konstitutive Regeln in Frage gestellt werden. Die Umdeutung des Gedankens der Gleichbehandlung in eine aktive Gleichstellung solcher Minderheiten forciert diesen Prozess in nie gekannter Weise. Gleichmacherei wird damit zum legitimen Ziel erklärt. Schematisch fortgedacht, würde dies auf eine globale Gesellschaft austauschbarer Personen hinauslaufen, auf eine Gesellschaft aus prinzipiell gleichen menschlichen Atomen, die überall und nirgends zu Hause wären, denen daher niemand näher oder ferner stünde als beliebige andere, kurz: eine egalitäre Weltgesellschaft, deren Geschicke nur durch eine zentrale Weltregierung verwaltet werden könnten.

Quo vadis, Germania?

Das ist zwar Utopie. Die Anfänge dieses Prozesses vollziehen sich freilich vor aller Augen: Die Öffnung der Grenzen für beliebige Zuwanderer aus fremden Kulturkreisen lockert den für eine Demokratie unerlässlichen Zusammenhalt der Bevölkerung. In die Lücke, welche die kinderlosen emanzipierten Frauen der westlichen Welt hinterlassen haben, wandern die gebärfreudigen Frauen Vorderasiens und Afrikas ein. Die unterschiedliche Reproduktionsrate von Heimischen und Eingewanderten lässt die Authochtonen in ihrem eigenen Land sukzessiv zu Fremden werden. Diesen Heimatverlust mag man bedauern. Aber er ist in Deutschland offenbar mehrheitlich gewollt. Und selbst wenn dies nicht so wäre: Wer die Kinder macht, der bekommt das Land, und zwar zu Recht; seinen Abkömmlingen gehört die Zukunft. Alles andere ist leere Theorie. Ob diejenigen, über die damit der Stab gebrochen wird, dies einsehen, ist ohne Belang.

Wohin genau diese Entwicklung realiter führen wird, ist schwer absehbar. Demagogen zeichnen sich nur selten dadurch aus, dass sie ihr Ziel präzise beschreiben würden. Sie lassen es vielmehr im Unbestimmten und gestatten allenfalls einen vagen Blick auf die künftige Welt. Vom jungen Marx etwa hören wir, dass in der kommunistischen Sozietät „die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“ (MEW 3, 33). Lenin versprach allen Ernstes, „die gesamte Volkswirtschaft nach dem Vorbild der Post zu organisieren“ (Staat u. Revolution, III 3 [a.E.]). Der moderne „kulturelle“ Marxismus verhält sich in dieser Beziehung nicht anders. An sich weiss jeder, dass das Prinzip der Egalität in einer arbeitsteiligen Gesellschaft auf unüberwindliche Grenzen stösst; denn eine solche Gesellschaft braucht unterschiedliche Menschen, wenn sie funktionieren soll. Woher diese Unterschiede kommen sollen, wenn unentwegt auf die Aufhebung aller Unterschiede hingearbeitet wird, ist jedoch eine Frage, um die der moderne Marxist einen ebenso grossen Bogen macht wie der Teufel um das Weihwasser. Wo man das freie Spiel der Kräfte verwirft, bleibt eigentlich nur die obrigkeitliche Regelung, wie Aldous Huxley es bereits vor langem prognostiziert hat. Von autonomer Selbstbestimmung könnte dann keine Rede mehr sein.

Wer Ideen hat, darf sich melden

In einem herrschaftsfreien Diskurs aller Bürger, in dem die verbindlichen Regeln des Zusammenlebens ausgehandelt werden, wäre für eine durchregulierte Welt dieser Art kaum Zustimmung zu erlangen. Deshalb sind die politischen Eliten an einem offenen Diskurs auch gar nicht interessiert. Sie arbeiten vielmehr daran, den gelenkten Diskurs auf Dauer zu stellen und die mentale Erziehung der Bürger auf subtile Weise zu perfektionieren. Die soziale Verhaltenssteuerung gewinnt dadurch einen anderen Charakter, als es bisher überwiegend der Fall war: An die Stelle der grobschlächtigen Beschränkung äusserer Handlungsspielräume tritt immer mehr die unmerkliche Einhegung des inneren Freiheitsraums, die sanfte Beeinflussung und Kontrolle der Gedanken. Die Gesellschaft teilt sich danach in „richtig“ und „falsch Denkende“, und alle Anstrengungen richten sich darauf, die falsch Denkenden aus dem politischen Diskurs auszuschliessen. Die Rotwein und gutes Essen schätzenden Salonkommunisten, die sich diese Aufgabe zum Lebensinhalt gemacht haben, nennen sich gern „Linksliberale“, verfolgen jedoch alle Abweichler von der allein akzeptierten Linie mit einem Hass, der eines Stalinisten alter Schule würdig wäre.

Wer gegen die von dieser Klientel geschaffenen Netzwerke antreten, wer die menschliche Autonomie bewahren und der Freiheit eine Lanze brechen will, braucht nicht nur wie ehedem Kraft und Entschlossenheit. Er braucht nach Lage der Dinge mittlerweile auch Ausdauer für einen zweiten „Marsch durch die Institutionen“; denn kurzfristig läuft insoweit gar nichts mehr. Vor allem aber benötigt er eine realistische Vision einer freiheitlichen Zukunftsgesellschaft, die dabei als Leitstern dienen könnte. Wer zu einer erneuten Aufklärung beitragen möchte, die offenbar immer dringlicher wird, findet hier ein reiches Betätigungsfeld. Wer Ideen hat, darf sich melden, möchte man fast sagen. Denn selbst wenn man von Marx sonst nichts lernen könnte, eines kann man eben doch lernen, nämlich dass der Gedanke das Denken am meisten beflügelt.

Prof. Dr. Johann Braun war bis zu seiner Pensionierung ordentlicher Professor an der Juristischen Fakultät Passau.

Dieser Artikel erschien zuerst im Mai 2018 auf www.freiewelt.net. Mehr zum Thema Kulturmarxismus finden Sie in der Magazin-Sonderausgabe von Zukunft CH: Die marxistische Kulturrevolution und ihre Auswirkungen bis in die Gegenwart