In der Türkei geht das Aufbegehren gegen ihre islamisch-konservative Regierung ungebrochen weiter. Der Hauptschauplatz der Kundgebungen, der Taksim-Platz in Istanbul, wurde zwar inzwischen von der Polizei geräumt. Die Volkserhebung breitet sich aber auf andere Viertel und Ballungsräume in der ganzen Türkei aus. Das Regime karrt Hunderttausende seiner islambewegten Anhänger aus der Provinz in die Städte, wo sie mit den Oppositionellen blutig zusammenstossen.
Die Unrast hat schon Ende Mai als vordergründig grüner Protest gegen die Zuzementierung des Istanbuler Ausflugsparks Gezi Parki begonnen. Sie richtete sich aber von Anfang an auch gezielt gegen das, was Ministerpräsident Erdogan dort hinbauen will: Einen ganzen Komplex im osmanischen Stil, gekrönt von einer mächtigen Moschee. Mit der prächtigen griechisch-orthodoxen Vorzeigekirche von Ayia Triada auf der anderen Seite des Taksim-Platzes soll so eine wieder islamisch bestimmte, aber auch Andersgläubige duldende Türkei präsentiert werden. Wie sie es im 19. Jahrhundert war, als Reformsultane den Bau von Kirchen und Synagogen mit Kuppeln und Türmen erlaubten und die Todesstrafe für Verkündigung unter Muslimen ausgesetzt wurde. Das ist das nostalgische Ideal von Erdogan und seinen Anhängern, das aber seinerzeit nicht länger als 37 Jahre Bestand hatte und dann in fanatischen Panislamismus und die Massenmorde der so genannten Jungtürken an armenischen, aramäischen und griechischen Christen umkippen sollte.

Bisher war Taksim im Herzen von Istanbul der Vorzeigplatz für die areligiöse, doch umso nationalistischere Ideologie des Kemalismus. Genau dort hatte sich Kemal Atatürk 1922 zum Herren des alten Stambul gemacht und den letzten Sultan verjagt. Erdogans Bauvorhaben vom Gezi-Park ist daher ein Schlag ins Gesicht all jener, die dem säkulären Programm des Europäisierers der Türkei weiter die Treue halten. Moderne Frauen vor allem, die sich dem heutigen Trend zu Kopftuch und verdeckenden Mänteln widersetzen. So geben bei diesen Kundgebungen von Anfang an Türkinnen in Jeans und T-Shirts mit freien Haaren den Ton an, Kopftuchträgerin lassen sich nirgendwo blicken. Frauen und Männer kamen und kommen aus allen Schichten und politischen Richtungen, die sich gegen eine Re-Islamisierung der Türkei wehren: Von der revolutionären Linken bis zu rechtsradikalen Nationalisten. Aber auch Freunde der türkischen Christen sind dabei, aus den Reihen der Minderheiten-Partei BDP. Diese hatte bei den letzten Kommunalwahlen erstmals seit Jahrzehnten wieder christliche Gemeinde- und Stadträte durchgebracht. Und das gerade im Istanbuler Stadtteil Cihangir, wo jetzt das Herz der Protestbewegung schlägt.

Trotz der noch immer relativ kleinen Zahl der Aufbegehrer zeigen sich diese gut organisiert und zwischen den verschiedenen Orten der Demonstrationen koordiniert, bis hin zu den Auslandstürken im deutschsprachigen Raum. Offensichtlich wird nach einem klug ausgeheckten Plan vorgegangen, zu dem sich sogar die ausserparlamentarische türkische Linke mit den kemalistischen Oppositionsparteien zusammengefunden hat. Die Regierung spricht inzwischen auch von ausländischen Agenten, welche die Unrast schürten. In Ankara wurde ein Iraner unter diesem Vorwand festgenommen. Ähnliche Vorwürfe werden inzwischen auch gegen den Pianisten aus Konstanz erhoben, der die Kundgebungen am Taksim mit seinem Spiel bis in die Räumung hinein begleitete. Mit Sicherheit scheint allerdings das Assad-Regime hinter den Unruhen in Hatay zu stecken. Dieser noch immer stark christliche Südzipfel der Türkei war Ankara erst 1939 von den Franzosen übergeben worden, um es von einem Kriegseintritt an der Seite Hitlers abzuhalten.

Von Heinz Gstrein