In den letzten Jahren war ich regelmässig an Beerdigungen. Manche Menschen, die dort geehrt und deren Scheiden aus dem Leben betrauert wurden, kannte ich gut, andere weniger. Es waren Verwandte darunter und enge Familienmitglieder von sehr guten Freunden. Mein Herz ist in solchen Momenten sehr bewegt. Ich habe getrauert oder mit nahen Menschen mitgetrauert.
Es gab jeweils einen Gottesdienst. All diesen Gottesdiensten war gemeinsam, dass sehr viele Leute daran teilnahmen. Was sagt das über die verstorbene Person aus, dass so viele Familienmitglieder, Verwandte, Bekannte, Freunde und Kameraden sich erinnern, sich die Mühe machen, den Toten ehren zu kommen und die nahen Angehörigen zu unterstützen? Der Mensch hat offenbar in seinem Leben etwas bewegt. Offensichtlich hat er andere Personen geprägt, sich investiert, an seinem Leben teilhaben lassen und an anderen Leben teilgenommen. Offensichtlich war die verstorbene Person ein geliebtes Familienmitglied, ein Vater, eine Mutter, Grossvater, Grossmutter, Schwester, ein Bruder, Ehepartner, guter Chef oder ein spannendes Vereinsmitglied, ein der Gesellschaft dienendes Individuum. Am eindrücklichsten war jeweils der Lebenslauf von den Verstorbenen, was sie geleistet haben, was sie gut, manchmal weniger gut gemacht haben, wo sie sich leidenschaftlich engagiert haben, wer sie geliebt hat, was ihnen passiert ist, welche Schicksale sie erlebt haben. Mit diesem Lebenslauf erklärte sich jeweils von selbst, warum so viele Personen anteilnahmen.

Ich glaube, dass im Moment des Abschiednehmens wahre zukunftstragende Werte ans Tageslicht kommen. Es zeigt sich, was ein Mensch über seinen Tod hinaus in die Gesellschaft hineingetragen hat, was generationenübergreifend weitergegeben worden ist. Sind wir wirklich bereit, uns durch das Herunterreissen oder Umformen alter Werte, wie der Ehe zwischen Mann und Frau, Familie und Verwandtschaft, Ehrenamtlichkeit, verbindlicher Kameradschaft, Nachbarschaftshilfe etc. die Zukunft zu verbauen? Sind wir bereit, durch Kurzfristigkeit, Egoismus, Spass als oberstes Gebot, eigenes Glück als Mass aller Dinge die Diensthaltung, wahre Liebe, die ihr Leben lässt für ihre Freunde, und Hoffnung für eine Zukunft über unser Leben hinaus preiszugeben?

Des Weiteren erschreckt mich der Tod in seiner Endgültigkeit. Wir leben heute in der „bearbeiten-rückgängig“-Generation. Heute scheint alles möglich zu sein, alles ist wandelbar, Fehler können offenbar ohne ernsthafte Konsequenzen rückgängig gemacht werden, Verbindlichkeit und Verantwortungsbewusstsein scheinen daher keine grosse Rolle mehr zu spielen. Und auch hier müssen wir uns fragen: Wollen wir das so? Wollen wir damit die langfristige Zukunft unserer Gesellschaft und Zivilisation, welche über Generationen hinweg gewachsen ist, wegwerfen für eine kurzfristige, eigennutzenorientierte Spass- und Konsumgesellschaft, für Ideologien wie Relativismus, Gender Mainstreaming und Individualismus? Vereinsamung, Abhängigkeit von Drogen oder vom Staat, psychische Krankheiten und vieles mehr sind die Folgen davon.

Für mich waren diese Beerdigungen ein Zeichen der Hoffnung. Es gibt offensichtlich noch Menschen, die etwas über Generationen hinweg weitergeben, nicht der Kurzfristigkeit verfallen sind, sondern denen nachhaltige Werte etwas wert sind. Dies zeigt sich vielleicht erst nach dem Tod, vielleicht sogar erst hunderte von Jahren später. Sollte das nicht die Perspektive sein, nach der sich auch unsere Politik und Gesellschaft zu richten hat?

Von Urs Vögeli