Für die Beobachtung von weltweit einzigartigen Phänomenen und kulturellen Ereignissen reist man gerne um die halbe Welt. Passiert aber etwas direkt vor der eigenen Haustür, schätzt man es oft umso weniger. Ja, manchmal weiss man nicht einmal etwas davon. Grund genug, weshalb ich Sie auf eine Besonderheit der politischen Kultur der Schweiz aufmerksam machen und von meinem Besuch bei diesen aussergewöhnlichen Events berichten möchte.
Jeweils im letzten Sonntag im April und am ersten Sonntag im Mai findet in der Schweizer Politlandschaft etwas statt, was weltweit einzigartig ist. In zwei Teilstaaten der Schweiz (Kanton Appenzell Innerhoden und Kanton Glarus) werden die Landsgemeinden durchgeführt. Die Landsgemeinde ist eine Sonderform der direkten Demokratie und wird Versammlungsdemokratie genannt. Die stimmberechtigten Kantonsbürger und viele Zuschauer treffen sich auf dem Landsgemeindeplatz. Die Bürger debattieren, wählen wichtige Amtsträger und stimmen über Verfassungs- und Rechtsvorlagen ab. Kultur, Gesellschaft und Staat verschmelzen. Die Staatsmacht geht vom Volk aus. Jeder hat das Recht, sich in freier Rede zu den Geschäften zu äussern. Die Regierung und auch die Justiz sind direkt gegenüber der Bevölkerung rechenschaftspflichtig. Der Landammann mit seiner relativ starken Regierungsfunktion steht seinem Volk im Ring gegenüber. Der Ring ist der Teil des Landsgemeindeplatzes, wo nur die Stimmberechtigten hineindürfen. Wie in einem Parlament gibt es Regeln und Traditionen. Regeln, die den Respekt voreinander und die Mitwirkung des Volkes garantieren. Traditionen die den Zusammenhalt und die Ernsthaftigkeit betonen.

So ähnlich die beiden Landsgemeinden auch scheinen, um so mehr bemerkt man bei genauerer Betrachtung, dass sie auch sehr unterschiedlich ausgestaltet sind. Im Kanton Glarus wird mehr geredet: Ausserhalb und innerhalb des Rings, offiziell auf dem Podest und unten in der Menge. Die Wahl von Amtsträgern hat nicht einen so hohen Stellenwert. Dafür dürfen zu Geschäften während der Landsgemeinde Änderungsanträge gestellt werden, was des Öfteren eine Eigendynamik entwickelt und darum die Glarner Landsgemeinde zuweilen progressive Entscheide fällt. Die Versammlung im Kanton Appenzell Innerhoden ist ruhiger und wirkt strenger. Es redet nur, wer auf dem sog. „Stuhl“ ist. Es gibt zwar kein Antragsrecht wie in Glarus, aber dafür ist die Wahl der Justiz und Regierung, allen voran die Wahl des regierenden und stillsitzenden Landammans, von grosser Bedeutung. Die gesamte Inszenierung wirkt traditioneller. So fallen die vielen mit Säbeln bewaffneten Bürger auf (der Säbel gilt zusätzlich zur Stimmkarte als Stimmrechtsausweis), die farbenfrohen Rhodsfahnen oder auch die mit goldenen Helmen ausgestatteten Feuerwehrleute, die zum Ordnungsdienst abkommandiert sind. Dafür hat bei den Glarnern die Armee einen symbolischen Auftritt als Bewachungsorgan und um die Landsgemeinde herum findet ein froher und lebendiger Markt statt. Beide Landsgemeinden werden mit einem musikalischen Einzug zeremoniell eröffnet.

Erstaunlicherweise gibt es viele junge Bürger, die die Landsgemeinde besuchen. Die Beteiligung am Gemeinwesen ist rege. Dies hat vermutlich mit der sehr nahbaren und erlebbaren Art der Demokratie zu tun. Demokratie ist eine Gemeinschaftsangelegenheit. Demokratie hat mit Beziehungen zu tun: Mit der Beziehung untereinander und der Beziehung zwischen Staat und Bevölkerung. Dies kommt am deutlichsten zum Ausdruck, wenn das Volk und die Regierung ihren Eid schwören. Was aber mit diesen Eiden noch klarer heraussticht ist, dass dies auch mit der Beziehung zwischen Volk und Gott zu tun hat. Die Glarner bitten um die Hilfe Gottes und in Appenzell Innerhoden schwören Landammann und Volk „die Ehre Gottes, sowie des Landes Nutz und Ehre zu fördern und den Schaden zu wenden“. Die Eidesleistung ist ein biblisches Prinzip und verschmilzt mit einem republikanischen Gemeinschafts- und Staatsverständnis.

Wenn nun mit diesem kleinen Bericht Ihre Neugierde geweckt wurde und Sie nicht bis zum nächsten Frühjahr warten möchten, diese direkteste Art der Demokratie mit zu erleben, besuchen Sie doch als Einstieg einfach einmal die Gemeindeversammlung bei Ihnen in der Gemeinde oder in der Nähe. Oder nehmen Sie aktiv am lokalen politischen und gesellschaftlichen Leben teil, indem Sie z.B. einmal an die Urne gehen anstatt gar nicht oder brieflich abzustimmen. Oder besuchen Sie Ihr Parlament. Es liegt in unser aller Interesse, denn wie der Politologe Maurizio Viroli sagte: „Das Vaterland besteht aus den Beziehungen des Staates mit seinen Gliedern. Verändern sich oder verschwinden diese Beziehungen, so verschwindet auch das Vaterland.“

Von Urs Vögeli