Mit seiner neuen Verfassung erhält Ägypten eine recht unerfreuliche Weihnachtsbescherung. Das nun islamkonforme Grundgesetz ist zugleich eine schwere Hypothek für 2013, ja für viele kommende Jahre. Mit Allah als fiktivem Staatsoberhaupt und dem Artikel 2, der das religiöse Schariatsrecht zum Leitfaden jeder Gesetzgebung, alles öffentlichen und Privatlebens macht, wurde nach einjähriger Übergangszeit vom Aufbruch des „Arabischen Frühling“ die Alleinherrschaft der Muslimbruderschaft am Nil endgültig zementiert. Auf diesen Dezember hatte sie seit 84 Jahren im islamistischen Untergrund, in den Folterkerkern von Präsident Nasser, mit Mord und Brand, aber zuletzt mit gerissener Demagogie unter und nach dem Diktator Mubarak hingearbeitet. Was Ägypten jetzt bevorsteht, lässt sich nur bei einem Blick in die Geschichte, die Ideologie und die Praktiken dieser Organisation erahnen. Zu sehr war und ist der von ihr gestellte Staatschef Muhammad Mursi ein Meister der Irreführung im In- und Ausland und der Verschleierung wahrer Ziele.
Bruderschaften, die „Achwan“, haben in der islamischen Welt schon lang eine wichtige Rolle gespielt. Diese von Haus aus mystischen Meditationszirkel wurden zu sozialen Begegnungsorten, wo der Pascha neben dem Bettler am gleichen Gebetsteppich sass. Sie übernahmen die Aufgaben von Gewerkschaften und Zünften – so die Kaderia für die Schiffer an allen grossen Strömen vom Niger bis zum Indus, retteten wie die türkische Mevlania im Ersten Weltkrieg verfolgte Armenier vor dem sicheren Tod, bildeten aber auch eine Art islamische Ritterorden, die gegen Kreuzfahrer und später die Kolonialmächte kämpften. Als daher 1928 der junge Lehrer Hassan al-Banna in Ismailia am Suezkanal eine zunächst kleine Schar von Männern um sich sammelte und ihr den Namen Muslimbrüder gab, war das nicht auffällig. Eben eine weitere der über 300 islamischen Bruderschaften, von denen es in Ägypten mehr als 300 gab. Weder die Geheimpolizisten des ägyptischen Königs Fuad noch die in der Suezkanalzone zuständigen Briten sahen darin etwas Auffälliges oder gar Gefährliches. Doch sie täuschten sich: Banna und seine Brüder versammelten sich zwar vordergründig zu Gebet und Betrachtung. Insgeheim arbeiteten sie jedoch auf die Vertreibung der englischen Besatzer und der zunächst aus Russland und Rumänien, ab 1933 auch aus Deutschland einströmenden Juden hin. Dieses Programm fand gerade in der Suezkanalzone rasch Anhang, wo die Briten und eingewanderte Juden den Ton angaben. Sogar eine Muslim-Schwesternschaft entstand unter Bannas Weggefährtin Labiba Ahmed. Bald breitete sich die antikolonialistische und antisemitische Bewegung auf ganz Ägypten aus, erreichte nach dem Zweiten Weltkrieg ihren ersten Höhepunkt mit 600‘000 Mitgliedern. Angesichts dessen liess König Faruk Hassan al-Banna 1949 ermorden. Sein zweiter Nachfolger als „Generallenker“ der Bruderschaft, Hassan al-Hudaibi, probte im Winter 1951/52 die erste Machtergreifung: Die Muslimbrüder steckten Kairo in Brand, entführten und ermordeten Juden, Christen und missliebige Politiker. Als der Aufstand von Faruk mit letzter Kraft niedergeschlagen wurde, schlossen sich die Muslimbrüder der nasseristischen Verschwörung der „Freien Offiziere“ an, die am 23. Juli 1952 die Republik Ägypten ausriefen.

Als Nasser zwei Jahre später seine Herrschaft nicht länger mit den Muslimbrüdern teilen wollte, sie verboten wurden und ihre führenden Mitglieder in Kerker und Arbeitslager wanderten, reagierte die Bruderschaft auf durchaus verschiedene Weise: Der Generallenker Hodeibi passte sich den veränderten Gegebenheiten an, verlegte das nun illegale Wirken auf Sozialarbeit und propagierte einen gemischten Staat mit islamischen und weltlichen Elementen. Diese Richtung hat auch jetzt ihre Verfechter, doch sind sie in der Minderheit zu den Anhängern des grossen Bruderschaftsideologen Sayyed Kutb. Er trägt den Namen des mächtigsten von allen Geistern, mit denen der ägyptische Volksglaube Kairos historische Bauten und Friedhöfe bevölkert. Der Kutb wohnt im prächtigen Stadttor Bab as-Suweila und ist ein fast allmächtiger Geist. Zum Ungeist eines besonders radikalen Politislams sollte der nach ihm benannte Sayyed Kutb werden. In jahrelanger Folterhaft arbeitete er das System einer absoluten Herrschaft Allahs mit den Muslimbrüdern als ihrem irdischen Arm aus. Juden, Christen, aber auch laxe Muslime gilt es auszurotten.

Kutb wurde 1966 hingerichtet, doch seine Ideen zündeten jetzt erst recht. Nach Nassers Tod 1970 wurde die Bruderschaft unter Sadat wieder zugelassen, ja regelrecht begünstigt. Mubarak ging wieder auf Distanz zu den Muslimbrüdern, doch hatten sie sich inzwischen fest etabliert. 2011 sprangen sie auf den bereits angerollten Zug des Arabischen Frühlings auf und bekamen die ganze Demokratiebewegung bald unter ihre Kontrolle. Nach aussen hin bekannten sie sich zu einem modernen, fortschrittlichen Islam, trugen statt Turban und Kaftan Nadelstreifanzug und Krawatte. Unter diesem Deckmantel gewannen sie die Parlamentswahlen vor einem Jahr und konnten ihren Exponenten Mhammed Mursi Ende Juni als Staatspräsidenten durchsetzen. Spätestens mit der jetzigen neuen Verfassung haben die Muslimbrüder aber ihr wahres Gesicht offen gezeigt.

Ende 2012 sieht sich also die Machtergreifungs- und Machterhaltungsmaschine der Muslimbuderschaft am Ziel. Ägypten ist fortan eine islamistische Diktatur unter dem „Mursched Amm“, dem „Generallenker“ der Bruderschaft. Als „Mutterorganisation des politischen Islams“ hat sie den ihr von Sayyed Qutb hinterlassenen Auftrag zum Sturz der seit 200 Jahren weltlichen Ordnung am Nil und zur Etablierung eines islamischen Gottesstaates auf Grundlage des Schariatsrechts erfüllt.

Beim Widerstand ihrer Gegner handelt es sich jetzt nur noch um Rückzugsgefechte. Die konservative Wafd-Partei ist über der Auseinandersetzung um die neue Verfassung in einen Islamistenflügel und einen demokratischen Rest auseinandergebrochen. Die Anhänger von Friedensnobelpreisträger Baradei kehren von den Strassen in ihre Diskussionsklubs mit bequemen Sofas zurück. Sie galten immer schon als wortreiche, aber ineffiziente „Partei des Diwans“. Die koptischen Christen haben sich schon vor der ersten Verfassungsabstimmung in ihr Schicksal als eine künftig nur gerade noch geduldete Minderheit gefügt: Patriarch Tawadros II. stellte seinen immerhin um die zwölf Millionen Gläubigen frei, mit Ja oder Nein zu stimmen. Den einzigen harten Kern der Opposition stellt die ägyptische Arbeiterschaft mit ihrem säkulären „Arabischen Sozialismus“. Gerade sie wird aber von der Bruderschaft gezielt umworben mit Propaganda in der ägyptischen Volkssprache und Geschenken aller Art. Speiseöl, Zucker und Brot hatten die Muslimbrüder schon beim Verfassungsreferendum offen an mit Ja-Stimmende verteilt.

Ein gewisser institutioneller Widerstand kommt nur mehr von den Richtern, besonders von jenen am Verfassungsgericht. Sie sitzen aber langfristig am kürzeren Hebel. Die Streitkräfte sind zumindest gespalten. Generaloberst Abdel Fatah as-Sissi, der sich kurz vor den Abstimmungen um einen Konsens zwischen Muslimbrüdern und Opositionellen bemüht hatte, wurde von Präsident Mursi zurückgepfiffen. Seitdem steht er im Hauptquartier unter einer Art Hausarrest, seine Befugnisse hat praktisch der den Muslimbrüdern ergebene Vize-Armeechef übernommen.

Auf diese neuen Machtverhältnisse am Nil wird sich auch die internationale Gemeinschaft einstellen müssen. Die USA scheinen sich sogar schon damit abgefunden zu haben. Sie vertrauen den Zusicherungen Mursis, dass er die Friedensverträge mit Israel weiter einhalten will. Nachdem er sein Wort den ägyptischen Demokraten und Christen gegenüber schon so oft und schwerwiegend gebrochen hat, haben auch seine Garantien für den jüdischen Staat in Palästina nur Leichtgewicht. Die Muslimbruderschaft dürfte sich vielmehr an den von Sayyed Kutb 1964 in seiner Kampfschrift „Meilensteine“ geforderten Kampf gegen Israel und das Judentum überhaupt bis zu ihrer Vernichtung halten.

Von Heinz Gstrein