Mit dem im Februar des Jahres 313 durch Kaiser Konstantin den Grossen verabschiedeten Toleranzedikt von Mailand trat das Christentum offiziell auf die Bühne der europäischen Geschichte. Zunächst als „erlaubte Religion“ und ab 380 als Staatsreligion wurden die Christen nach und nach zu einer prägenden Kraft der römischen bzw. der sich nach der Völkerwanderung neu formenden abendländischen Gesellschaft.

Von Dominik Lusser

Nebst einem enormen Humanisierungsschub haben unsere Vorfahren im Glauben insbesondere auch entscheidend auf intellektuelle Entwicklung Europas gewirkt. Die Rede ist von der heute oft verkannten genialen Leistung der abendländischen Christenheit, griechische Weltweisheit und römisches Rechtsdenken im Lichte der biblischen Offenbarung geläutert, vertieft und in origineller Weise fruchtbar gemacht zu haben, sodass mit gutem Grund gesagt werden kann, dass mit dem Eintritt des Christentums in die Geschichte Europas auch für die „säkulare“ Vernunft ein Siegeszug begann.

Die Christen erkannten nämlich von Beginn an neben der göttlichen Offenbarung auch die Natur, die sie als Schöpfung verstanden, als wichtige und notwendige Erkenntnisquelle für den Menschen. Bereits die Antwort des Evangeliums auf die Frage, ob es erlaubt sei, Steuern zu bezahlen, verweist auf diesen nicht-totalitären Charakter des Christentums: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, Gott aber, was Gottes ist“. Diese Grundannahme förderte ein legitimes Forschen ausserhalb der Offenbarung, das die Kirche aus der Mitte ihres biblischen Menschenbildes heraus von Beginn an bejahte.

Nicht dass dieses Nebeneinander von Theologie auf der einen sowie Philosophie, Medizin, Recht und später auch der Naturwissenschaften auf der anderen Seite nicht auch zu schmerzhaften Konflikten Anlass gegeben hätte. Die Dualität von Kirche und Staat, Geistlichkeit und Zivilgesellschaft sowie Glauben und Wissen war in der Geschichte Europas oft eine spannungsgeladene Beziehung. Gerade im Ringen um die legitime Autonomie beider Bereiche sowie ihrer gegenseitigen Ergänzungsbedürftigkeit war diese spannungsvolle Einheit aber auch sehr fruchtbar, weil sie in ihrer Komplementarität dem ganzen Menschen mit seinen irdischen Bedürfnissen und übernatürlichen Hoffnungen zu entsprechen vermochte.

In Gott gegründete Weltlichkeit

In diesem Dualismus, den Josef Pieper treffend mit dem Begriff der „theologisch gegründeten Weltlichkeit“ umschrieben hat, liegt der Schlüssel zur Identität des Abendlandes. Sie besagt, dass das Abendland einerseits im Glauben an den biblischen Gott der Wahrheit und Liebe wurzelt, anderseits aber auch die gesunde Selbständigkeit des Weltlichen stets gefördert hat. Sehr schön kommt diese Identität bis heute in der Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung zum Ausdruck, wo in der Formel: „Im Namen Gottes des Allmächtigen! Das Schweizervolk und die Kantone“, zugleich von der Verantwortung vor Gott und der Autonomie des Menschen die Rede ist.

Zwar trifft es zu, dass in den letzten 1700 Jahren manche bürgerlichen und wissenschaftlichen Freiheiten gegen die Kirchen erkämpft werden mussten. Doch gilt es zu bedenken, dass die Zurückhaltung der Christen gegenüber der europäischen Moderne entgegen heute weit verbreiteter Legenden kaum durch prinzipiellen Widerstand gegen das Eigenrecht von Wissenschaft und Politik motiviert war; wohl aber durch die Sorge, Wissenschaft und Politik könnten sich in ihrem Autonomiedrang aus dem Spannungsverhältnis zu Glaube und Moral ganz lösen und so entarten.

Und genau diese Befürchtung bewahrheitet sich heute immer mehr. Während sich die christlichen Kirchen nach dem Schock der Französischen Revolution im Verlaufe des zwanzigsten Jahrhunderts mit Demokratie und säkularem Rechtsstaat moderner Prägung definitiv ausgesöhnt haben und sogar die Legitimität einer recht-verstandenen historisch-kritischen Bibelexegese anerkennen, scheint anderseits der wissenschaftliche und politische Mainstream unserer Tage Europas Zukunft als ein rein weltliches Projekt zu sehen. Bedenklich scheint vor allem der diesem neuen, nicht mehr abendländischen Selbstverständnis zugrundeliegende, verkümmerte Vernunftbegriff. Vernunft wird nicht mehr als Fähigkeit begriffen, Wirklichkeit in all ihren Dimensionen zu erfassen und daran auch für das eigene Handeln Mass zu nehmen, sondern als rein funktionale Fähigkeit, das technische Können des Menschen zu erweitern.

Eine Politik, die sich ebenfalls nur noch individuellen Interessen verpflichtet fühlt, passt ihrerseits in regelmässigen Abständen die Gesetze der wissenschaftlichen Machbarkeit an. Immer raffiniertere medizinische Testverfahren sorgen für die flächendeckende Aussortierung „lebensunwerten“ Lebens und die Transplantationsmedizin macht jeden Sterbenskranken zum potentiellen Opfer einer neuen Generation von Ärzten. Dabei verliert der Mensch seine unantastbare Würde und wird zur Manipuliermasse seines eigenen Könnens und Wollens. Ein defizitärer Vernunftbegriff führt zurück in die Irrationalität vorchristlicher oder gar „vorsokratischer“ Zeit und schreckt nicht davor zurück, objektiv Widernatürliches für natürlich und Unrecht für rechtens zu erklären.

Zeit für eine neue Aufklärung

Dabei macht es sich die Welt zu einfach, den christlichen Widerstand gegen ideologische Angriffe auf Leben, Familie und gesunde Gesellschaftsordnung als religiösen Fundamentalismus abzutun. Denn es geht dabei, wie der scheidende Papst Benedikt XVI immer wieder und noch im Dezember 2012 im Zusammenhang mit der Gender-Ideologie betont hat, nicht um subjektive Überzeugungen, sondern um die rechte Vernunft. Das Christentum habe „im Gegensatz zu anderen grossen Religionen (z.B. dem Islam) dem Staat und der Gesellschaft nie ein Offenbarungsrecht, eine Rechtsordnung aus Offenbarung vorgegeben“ sondern stets „auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verwiesen“, rief der Papst 2011 dem deutschen Bundestag in Erinnerung und gab in Anlehnung an die ökologische Bewegung der letzten Jahrzehnte zu bedenken, dass auch der Mensch eine Natur habe, die er achten müsse.

Wenn die Europäer solche Mahnungen als illegitime Einmischung der Religion in die Belange des säkularen Staates empfinden, stellt sich die Frage, auf welchem Fundament unser Kontinent, der sich so sehr der Errungenschaften der Aufklärung rühmt, noch steht. Die Christen aber bezeugen durch ihr Eintreten für den gesunden Menschenverstand, der jenseits religiöser Unterschiede der gemeinsame Boden der Menschheit darstellen könnte, dass die europäische Moderne die christliche Religion zu Unrecht in die Sphäre der Subjektivität und der Gefühle abgeschoben hat. Denn der christliche Glaube macht alles andere als blind für die Wirklichkeit und die zeitlichen Belange, sondern schärft nach den Worten des Augustinus gerade umgekehrt den Verstand und stärkt der natürlichen Forscherdrang des Menschen: „Ich glaube, um besser zu verstehen.“

Somit aber steht das säkulare Europa 1700 Jahre nach dem Edikt von Mailand vor der Entscheidung, sich erneut der Vernunft zu öffnen und auch die Christen an der Zukunft des Abendlandes mitarbeiten zu lassen, oder aber bald in Unmenschlichkeit und kultureller Bedeutungslosigkeit zu versinken. Gott und der gesunde Menschenverstand mögen uns davor bewahren.