Noch sind es knapp zwei Wochen bis zur Bestellung des neuen türkischen Präsidenten am 10. August. Doch bereits der bisherige Wahlkampf hat Weichen gestellt: Regierungschef Tajip Erdogan wird dank seiner Machtmittel kaum als Staatsoberhaupt zu verhindern sein. Dabei scheint sein Herausforderer Ekmeleddin Ihsanoglu für das Amt durchaus besser geeignet: Der 1943 in Kairo geborene und in Ägypten aufgewachsene Nachkomme osmanischer Türken repräsentiert die so populäre islamische Renaissance zwischen Istanbul und Ankara viel eindrücklicher als der Politmuslim Erdogan, für den Kopftuch und Kampf gegen den Alkohol nur Mittel zum Zweck der eigenen Karriere sind. Es war der heute von diesem geächtete Islamreformer Fethullah Gülen, der den Ägyptentürken in den 1970er Jahren an den Bosporus holte und zum Direktor des Forschungszentrums für Islamische Geschichte, Kunst und Kultur machte. Ihsanoglu könnte also auf die Stimmen von Gülens breiter Anhängerschaft zählen, dazu noch der Atatürk-treuen Säkularistenpartei CHP sowie der nationaldemokratischen MHP. Beide haben ihn als gemeinsamen Kandidaten aufgestellt. Dazu fällt für Ihsanoglu sein Erfolgsbonus bei der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) ins Gewicht. Er war bis zum Vorjahr ihr Generalsekretär.
Das hilft aber alles nichts gegen einen Erdogan, der als weiter amtierender Ministerpräsident in die Wahlschlacht zieht und ungeniert den ganzen Staatsapparat für sich einsetzt. In jedem anderen Land als der Türkei wäre es undenkbar, dass ein Bewerber um das höchste Amt nicht vorher seine anderweitigen politischen Funktionen niederlegt. Erdogan bleibt hingegen bis 10. August nicht nur Regierungs-, sondern dazu Parteichef seiner AKP. Und er hat vor, beides auch als Präsident zu bleiben, wie seine neuesten Aussagen verraten. Er werde kein unparteiisches Staatsoberhaupt sein, sondern ein starker, selbst regierender Präsident nach amerikanischem Vorbild.

Oder vielmehr nach dem Beispiel von Kemal Atatürk? Nicht zufällig hat Erdogans Wahltross von Samsun am Schwarzen Meer über Sivas und Erzurum nach Ankara genau jene Route eingeschlagen, die Atatürks Revolte gegen den Sultan und die Siegermächte des Ersten Weltkriegs genommen hatte. Ein Weg, der von schwersten Ausschreitungen gegen politische Gegner und christliche Minderheiten begleitet war. Solche Misstöne umrahmen auch Erdogans jetzigen Wahlkampf. So sind Hacker in die Website der Istanbuler Armenierzeitung „Agos“ eingedrungen (die Armenier sind eines der ältesten christlichen Völker). Sie pflanzten des Porträt von Erdogan hinein und drohten: „Wir werden Euch Verräter ausrotten!“. Das sind keine leeren Worte: Vor sieben Jahren wurde der armenische Journalist Hrant Dink auf offener Strasse erschossen.

Mit diesem rüden Stil sind führende Parteigenossen von Erdogan ganz und gar nicht einverstanden. Noch-Präsident Abdullah Gül gibt ostentativ seinen völligen Abschied von der Politik bekannt, sucht sich sogar schon seinen Ruhesitz am Bosporus aus. Er hatte Erdogan vor Jahren an die Macht gebracht und galt als eiserner Getreuer. Seit dessen Abgleiten in einen autoritären Führungsstil im Sommer 2013 ist Gül aber auf Distanz zu seinem abtrünnigen Weggefährten gegangen.

Von Heinz Gstrein