Das Oberhaupt der anglikanischen Kirche, Erzbischof Rowan Williams, hat sich vor kurzem für die Einführung der Scharia in Großbritannien ausgesprochen. Der Erzbischof hält die Einführung einiger Teile des islamischen Rechtssystems in Großbritannien für „unvermeidlich“. Das Vereinigte Königreich müsse „der Tatsache ins Auge blicken“, dass sich einige der Bürger nicht mit britischem Recht identifizierten, sagte Rowan Williams. Einige Aspekte der Scharia zu übernehmen könne helfen, soziale Spannungen zu vermeiden.
Zukunft CH: Frau Spuler-Stegemann, was genau ist die Scharia?

Spuler-Stegemann: Zunächst einmal ist festzustellen, was die Scharia nicht ist – sie ist kein Gesetzbuch. Die Scharia umfasst das ganze Leben eines gläubigen Muslims, zu jeder Zeit, an jedem Ort. Sie regelt das Verhältnis zu Gott (darunter insbesondere die Fünf Säulen des Islam: Glaubensbekenntnis, rituelles Gebet, Fasten im Ramadan, Sozialabgabe und Pilgerfahrt nach Mekka; Dschihad) und der Menschen untereinander (rechtliche Bestimmungen, z.B. im Familienrecht und Strafrecht, Verträge, Zinsverbot, Geschlechterverhältnis etc.) und das Verhalten des Einzelnen. Durch Fatwas, also religiöse Gutachten, sind Probleme aller Art islamgerecht regulierbar; das bedeutet, die Scharia ist ein wandelbares, aktualisierbares Rechtssystem.

Zukunft CH: Nach Williams’ Vorstellungen soll es britischen Muslimen erlaubt sein, Ehe- oder Geldstreitigkeiten unter der Scharia, dem islamischen Recht, zu klären und nicht in normalen Gerichtssälen. Was würde das konkret bedeuten?

Spuler-Stegemann: Dass offiziell in Teilbereichen zweierlei Recht in England herrschen würde, eines (vorläufig?) nur für die Muslime, das andere für Nicht-Muslime. Es ist bekannt, dass die Praxis schon längst in diese Richtung gegangen ist. Umso mehr muss man dafür sorgen, dass dieser Trend gestoppt und nicht noch gefördert wird.

Zukunft CH: Welche Auswirkungen hätte die Einführung der Scharia in Europa, im Speziellen auch für Frauen?

Spuler-Stegemann: Für die Frauen wäre das ein unglaublicher Rückschritt, denn die Gleichberechtigung darf nie mehr in Europa zur Disposition stehen. Ganz generell würden individuelle Freiheiten wie die freie Meinungsäußerung oder die Religionsfreiheit den Interessen der Glaubensgemeinschaft, der Umma, untergeordnet. Also würden wesentliche Menschenrechte wieder unterdrückt.

Zukunft CH: Ist die Einführung der Scharia auch für andere europäische Länder als Grossbritannien schon gefordert worden?

Spuler-Stegemann: Der niederländische Justizminister, Piet Hein Donner, der jetzt missverstanden worden sein will, hatte sich 2006 für die Einführung der Scharia ausgesprochen, „falls Zweidrittel der Bevölkerung dies wünsche“.

Zukunft CH: In Teilen Kanadas wird die Scharia bereits angewendet. Gibt es bereits anerkannte Regelungen der Scharia in Europa?

Spuler-Stegemann: Im Prinzip dort, wo Gesetze islamischer Herkunftsländer ins Spiel kommen, z.B. bei Scheidungen, dem Aufenthaltsrecht der aus einer gemischten Ehe hervorgegangenen Kinder oder bei Eheschlüssen im Ausland. Auch bei Renten für Erst- und Zweitfrauen im Falle des Todes des gemeinsamen Ehemannes kommen derartige Scharia-Importe vor.

Zukunft CH: Der Erzbischof von Canterbury hat erklärt, die begrenzte Anwendung des islamischen Rechts könne die Gesellschaft stärken. Und der Direktor der Ramadan-Stiftung, Mohammed Shafiq, sagte, die Anwendung der Scharia könne die Spannungen in der britischen Gesellschaft verringern …

Spuler-Stegemann: Eine abenteuerliche These, die in Wirklichkeit die Spaltung der Gesellschaft fördert. Der Erzbischof von Canterbury stellt sich vor, dass die Scharia eingebunden werden soll in das weiterhin gültige englische Recht, Aber „göttliches“ Recht – wie die Scharia – und säkulares Recht sind zwei unterschiedliche Rechtssysteme und nicht miteinander zu vereinbaren.

Zukunft CH: Wie sieht es mit der Integration aus? Ist es nicht ein problematischer Ansatz, ein anderes Recht einzuführen, wenn sich einige Bürger nicht mit dem Recht eines Landes identifizieren (wie das in England laut Williams der Fall ist), also von einem doppelten Recht auszugehen und auf Integration zu hoffen? Fördert ein eigenes Rechtssystem nicht nur die Isolierung von Muslimen bzw. den weiteren Ausbau der Parallelgesellschaften?

Spuler-Stegemann: Die Einführung der Scharia würde in der Tat zur weiteren Isolation der Muslime führen. Wer sich nicht mit den rechtlichen Gegebenheiten der Mehrheitsgesellschaft noch dazu einer demokratisch gewählten Regierung einverstanden erklären kann, muss sich dort eine Bleibe suchen, wo er seinen Vorstellungen entsprechend leben kann.

Zukunft CH: In letzter Zeit häufen sich Forderungen – wie die von Bischof Williams nach Einführung der Scharia oder vom türkischen Ministerpräsidenten nach türkischen Universitäten in Deutschland –, die vermuten lassen, dass Europa immer weniger in Richtung Integration geht. Sind die bisherigen Integrationsversuche gescheitert, sodass man jetzt völlig andere Wege sucht?

Spuler-Stegemann: Im Grunde ist das alles nicht so kompliziert, wenn man Rückgrat zeigt, die universalen Menschenrechte nicht relativiert und geltendes Recht durchsetzt. Trotz unterschiedlicher Konzepte hat bislang noch kein europäisches Land den Stein der Weisen gefunden, wenn es um Integrationsfragen geht. Aber die Rede des Erzbischofs hat zumindest in Großbritannien die Diskussion um den unterschiedlichen Wertekanon in Gang gebracht. In Deutschland ist der Vorstoß Erdogans, türkische Universitäten zu errichten und 500 Lehrer an noch zu etablierende türkische Schulen zu schicken, zwar auf Ablehnung gestoßen und der Ausspruch „Assimilation sei ein Verbrechen wider die Menschlichkeit“ hat Empörung hervorgerufen; doch ebbt dieser Diskurs bereits wieder ab; Ratlosigkeit ist aber kein guter Lehrmeister.

Zukunft CH: Grossbritannien ist ein christliches Land. Ist es nicht bedenklich, dass so eine Forderung nach der Einführung der Scharia gerade von einem christlichen Oberhaupt kommt?

Spuler-Stegemann: Ich hoffe doch, dass die Gesetze in England säkular sind und bleiben. Wenn seine Rede auch nicht gerade für den Erzbischof von Canterbury spricht; er gibt immerhin selbst zu, nicht wirklich etwas von der Scharia zu verstehen; dem ist nichts hinzuzufügen.

Zukunft CH: Gibt es im Islam eine wirkliche Anerkennung der Menschenrechte, im Besonderen der Religionsfreiheit?

Spuler-Stegemann: Nein.

Zukunft CH: Ist der Islam vereinbar mit der Demokratie?

Spuler-Stegemann: Solange Gott, nicht jedoch das Volk als der gesetzgebende Souverän anerkannt wird, muss man daran zweifeln. Allerdings haben auch strenge Islamisten wie Maududi erklärt, der Islam schreibe keine bestimmte Regierungsform vor, so dass daran anzuknüpfen wäre.

Das Interview führte Beatrice Gall von Zukunft CH.

Interview mit der Islamwissenschaftlerin Prof. Dr. Ursula Spuler-Stegemann