Der Islam versucht sich heute bei uns einen demokratischen Anstrich zu geben. Hingegen ist in den nach islamischen Grundsätzen regierten Ländern sehr wenig bis gar nichts von echter Demokratie zu spüren. Ob das in der absolutistischen Monarchie von Saudi-Arabien oder in der so genannten Islamischen Republik Iran, unter Islamistendiktatoren wie Libyens Gaddafi oder Omar al-Baschir im Sudan der Fall ist.
Schon grundsätzlich sind einer Mitregierung der Bürgerinnen und Bürger im islamischen Staat durch das unabänderliche, allumfassende Religionsrecht der Scharia ganz enge Grenzen gesetzt. Dieses religiöse Recht gilt auch als öffentliches Gesetz und es regelt sogar das Privatleben. Kein Mehrheitsbeschluss kann es abändern, für neue, weltliche Gesetze ist kein Spielraum vorhanden. Der Islam kennt daher keine Legislative. Wo es Volksvertretungen überhaupt gibt, dürfen diese nicht gesetzgeberisch tätig sein, was unabdingbar zu einer richtigen Demokratie gehören muss. Islamische Gesetzgebung kann immer nur in Interpretationen und Neuauslegungen des unabänderlichen religiösen Rechts bestehen. Das Ideal eines islamischen Staates ist daher keine Volksherrschaft, wie sie das Wort Demokratie bedeutet, sondern die Herrschaft der Religionsgelehrten, der „Wilaya al-Fuqaha“.

Iran: Alle Macht beim „Weisenrat“

Am ehesten kommt dieser heute das iranische Regierungssystem nahe. Zwar ist immer wieder von einem Parlament in Teheran und von Wahlen zu diesem die Rede. Doch handelt es sich dabei in Wahrheit nur um eine beratende Versammlung, eine Schura, während alle Gewalt in Iran beim kollektiven Organ des „Weisenrates“ aus den höchsten schiitischen Klerikern liegt. Auch das Amt des Staatspräsidenten, der die zweite Gewalt einer Demokratie, die Administrative ausüben sollte, ist diesem Gremium von koranischen Schriftgelehrten unterstellt. Selbst das heute anscheinend so mächtige Staatsoberhaupt, Ahmad-i Nedschad, darf zwar jegliche Vernichtungsdrohungen gegen Israel und den christlichen Westen aussprechen. Wenn er jedoch eine Lockerung der strikten Verschleierungsvorschriften für die Frauen in der Islamischen Republik, Christinnen, Jüdinnen und Ausländerinnen inbegriffen, durchsetzen möchte, wird er sofort vom „Obersten Geistlichen Führer“, Ayatollah Khamanei, zurückgepfiffen.

Lybien: Brutale Alleinherrschaft Gaddafis

Die Experimente Gaddafis, in seiner libyschen Dschamahiryya eine Art direkte Demokratie (jedoch ohne Parlament) zu verwirklichen, dienen lediglich zur Verschleierung einer brutalen Alleinherrschaft, die jetzt hoffentlich bald zu Ende geht. Schon in seiner politislamischen Programmschrift von 1976, dem Grünen Buch, hatte Gaddafi den langen Ausführungen über diese angeblich direkte Volksherrschaft das Eingeständnis hinzugefügt: „In Wirklichkeit herrscht aber immer der Starke!“ Nun gibt es im modernen Islam auch einige Stimmen, die für echte Demokratisierung laut geworden sind. So der osmanischkurdische Mystiker Said Nursi (1884–1960), den die moderne Türkei anfangs geehrt, dann aber umso mehr verfolgt hat. Nursi trat wirklich für Demokratie im europäisch-westlichen Sinn ein. Seine Lehren sind in 14 Büchern dargelegt, die etwa 6‘000 Seiten umfassen und in ihrer Gesamtheit „Risale-i Nur“ genannt werden („Botschaft vom Licht“). Nursi sah die Notwendigkeit der Ämtertrennung bezüglich der religiösen und politischen Führerschaft. Nach ihm und seinem universalen Freiheitsverständnis ist und bleibt Religion Angelegenheit des individuellen Gewissens und somit Privatsache. In seiner praktischen Hauptschrift „Münazarat“ (Debatten) lehnt Said Nursi konkret Revolutionen für einen islamischen Staat wie im Iran 1979 und islamistische Parteien nach Art der Moslembrüder ab.

Türkei: Versuche der Umwandlung

So ist der von türkischen Nationalisten wie Islamisten bekämpfte Said Nursi zum Vordenker späterer Versuche geworden, eine islam-demokratische Ideologie und Bewegung auf die Beine zu stellen, wie es vor allem der heutige Regierungschef der Türkei, Tayip Erdogan, versucht. Bisher blieb derartigen Bemühungen jedoch immer der Erfolg versagt. An und für sich bot die Türkei keinen ungünstigen Boden dafür. Als eine der wenigen Ausnahmen von vom Islam geprägten Staaten kannte sie nämlich spätestens seit Sultan Suleiman dem Prächtigen im 16. Jahrhundert auch eine weltliche, von der Scharia unabhängige Gesetzgebung. Suleiman wird daher in der Türkei meist „der Gesetzgeber“ (Kanun-i) und nicht wie bei uns „der Prächtige“ genannt. Die späteren Versuche zur Umwandlung des absolutistischen osmanischen Sultanats in eine konstitionelle Monarchie nach europäischem Vorbild sind aber im Endeffekt nicht nur gescheitert, sondern schlugen in einen umso radikaleren Politislam um, als Sultan Abdel Hamid II. die Verfassung von 1876 ausser Kraft setzte und einen extremen panislamischen Kurs einschlug, der in den ersten Christenmassakern der 1890er-Jahre gipfelte. Dieser Rückschlag hing auch damit zusammen, dass die damalige türkische Demokratiebewegung Tanzimat („Neuordnung, Reform“) hauptsächlich von der europäischen Freimaurerei beeinflusst war und im Volk über wenig Rückhalt verfügte.

Jedenfalls wäre Erdogan der erste, dem es gelingt, islamisches Erbe und europäische Demokratie unter einen Hut zu bringen. Bevor von einer Aufnahme der Türkei in die EU – und die setzt eine funktionierende demokratische Ordnung am Bosporus voraus – die Rede sein kann, muss daher der Ausgang seines Experiments abgewartet werden.

Heinz Gstrein