Am 9. Mai 2015 fand im Fachbereich Religions- und Missionswissenschaft der Staatsunabhängige Theologische Hochschule Basel (STH) ein Islam-Studientag statt, an dem Frau Prof. Dr. Christine Schirrmacher (Bonn) in drei Vorträgen einerseits die aktuellen weltweiten Probleme des Islam analysierte, andererseits grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Islam und christlichem Glauben vortrug. Prof. Dr. Harald Seubert eröffnete den Studientag mit einer kurzen systematischen Einführung in den Zusammenhang von Vernunft, Religion und Recht im Islam.
Aktuelle Entwicklungen
Frau Schirrmacher machte deutlich, dass sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine immer stärkere Politisierung in der islamischen Welt abzeichnet. Dies war zunächst das Ergebnis des Zerfalls des osmanischen Reiches als des letzten anerkannten islamischen Kalifates. Für viele gläubige Muslime ist das Kalifat als organisierte Einheit von Religion und Politik die ideale Herrschaftsform des Islam, so dass es nicht verwundert, wenn es eine noch immer wachsende Zahl von Anhängern findet. Nicht alle von ihnen gehen den radikal dschihadistischen Weg. Es wurde aber auch deutlich, dass in den fragmentierten Staaten des mittleren Ostens – mit ihren geringen sozialen Aufstiegschancen und der ausgeprägten Korruption ihrer Eliten – junge Männer und in geringerem Masse auch Frauen besonders gefährdet sind, den Anwerbungen von Terroristen zu folgen.
Eingriffe des Westens in die postkoloniale Welt werden weitgehend als Identitätszerstörung wahrgenommen. Die 1928 begründete Muslimbruderschaft war für die Formierung des politischen Islam von entscheidender Bedeutung. Er verband aktive Sozialarbeit und Predigttätigkeit und formulierte das Votum: «Der Islam ist die Lösung». Schirrmacher stellte plastisch die Debatten um den «wahren Islam» dar, den Schiiten und Sunniten gleichermaßen zu vertreten beanspruchen. Es schloss sich eine rege Diskussion an, in der unter anderem die wie aus dem Nichts aufgetauchte IS, die dramatisch wechselnden Koalitionen im Vorderen Orient mit dem sunnitischen Saudi Arabien auf der einen, dem schiitisch geprägten Iran auf der anderen Seite, thematisiert wurden. Der Rückzug der USA wirkte keineswegs nur befriedend. Prognosen über die weitere Entwicklung erweisen sich angesichts der Unübersichtlichkeit der Lage als schwierig. Eine Lösung der Konflikte scheint nach menschlichen Maßstäben kaum möglich. Frau Schirrmacher zeigte allerdings, dass Erwartungen an einen «Euro-Islam» und die Annäherung des Islam im mittleren Osten an einen solchen europäischen Weg wenig realistisch sind. Eher sei zu erwarten, dass in Europa lebende Muslime in die Radikalisierung und Politisierung im Nahen Osten hineingezogen würden.
Herausforderungen im Islam
In ihrem zweiten Vortrag widmete sich Christine Schirrmacher theologischen Debatten und aktuellen Herausforderungen im Islam. Sie erinnerte an die Vernunfttheologie der Mu‘tazila vom 8. – 10. Jahrhundert, die mitunter als ‹islamische Aufklärung› gedeutet wird, und deren Überlieferung zu einem großen Teil (ca. 85%) noch nicht ediert und erforscht ist. Jene Richtung konnte sich politisch nicht dauerhaft durchsetzen. Sie wurde durch eine strikte islamische Orthodoxie und Orthopraxie abgelöst, die auch die Einheit von Religion und Politik im Islam vorbereitete. Seit Ende des 19. Jahrhunderts versuchte eine Reihe von Reformtheologen an jene rationale Schule anzuknüpfen. Manche namhaften islamischen Intellektuellen im Westen gingen diesen Weg. Ihr Einfluss innerhalb der islamischen Theologie bleibt allerdings marginal, ja namhafte islamische Theologen bestreiten, dass sie noch auf dem Boden des Islam stehen. Dem entgegengesetzt knüpfte der Politische Islam, wie der Salafismus, an den Frühislam Mohammeds und seiner Nachfolger und seine strikte Prädestinationslehre an. Es gibt indes heute nicht nur auf der einen Seite den gewalttätigen oder zumindest gewaltbereiten Islamismus und auf der anderen Seite den Reformislam. Dazwischen ist der legalistische politische Islam verortet, dem die Mehrzahl der Verbandfunktionäre folgt und der von den westlichen Demokratien einen allenfalls taktischen Gebrauch macht. Schirrmacher zeigte, dass er etwa im Zusammenhang der Würde der Frau oder der Distanzierung von aller Gewalt stärker in die Pflicht genommen werden müsste. Auch die Ambivalenz des Islam in Menschenrechtsfragen wies sie pointiert auf: Es gibt in der islamischen Welt eindrucksvolle Menschenrechtsinitiativen, wie die EOHR (Egypt Organisation for Human Rights) oder die «Versöhnungskommission» in Marokko, die darum bemüht ist, vergangene Menschenrechtsverletzungen soweit möglich zu kompensieren. Anhänger der Scharia und Dschihadisten schließen jedoch eine Geltung universaler Menschenrechte über die Grenze zwischen ‹Gläubigen› und ‹Ungläubigen› hinweg prinzipiell aus; der legalistische politische Islam akzeptiert sie allenfalls aus taktischen Überlegungen.
Christentum und Islam
Der dritte Vortrag wendete sich dem Verhältnis von Christentum und Islam zu, wobei vor allem zur Debatte stand, welche Bedeutung die Barmherzigkeit Gottes und die Erlösung des Menschen hat. Schirrmacher gab zunächst erhellende Einblicke in die Quellenlage zum Frühislam und zur Person Mohammeds. Die zugänglichen Quellen sind äußerst dürftig. Die ältesten Mohammed-Biographien weisen einen fast 200-jährigen Abstand zu Mohammeds Lebenszeit auf. Sie können daher eine nur geringe Authentizität beanspruchen. Nachweisbar ist aber ein Konzeptionswandel in Mohammeds Lehre. Judentum und Christentum verstand er zu Anfang – in seiner Zeit in Mekka – in Nebenordnung, später in Medina in strikter Unterordnung zum Islam. Dies wiegt umso schwerer, als das hermeneutische Prinzip der Islaminterpretation den späteren Suren aus Medina mehr Gewicht einräumt als dem mekkanischen Bestand. Eben hier hat der Politische Islam einen gewichtigen Anknüpfungspunkt, zumal Mohammed in Medina auch als Heerführer auftritt. Die These, dass der gewalttätige Islamismus mit den Zeugnissen des Islam nichts zu tun habe, erweist sich in jedem Fall als Illusion.
Im Zentrum des Vortrags stand die Auseinandersetzung mit der gängigen These einer «abrahamitischen Ökumene», die den Islam angeblich mit Judentum und christlichem Glauben verbindet. Wenn man indes biblische und koranische Texte im Einzelnen miteinander vergleicht, so zeigt sich die Haltlosigkeit dieser Auffassung: Der Koran spricht von Jesus («Isa») als einem Mohammed unterstellten Propheten. Heilsmittlerschaft und Gottessohnschaft schließt er aus. Abraham wird für den unverfälschten Ein-Gott-Glauben des Urislam beansprucht. Er hat sich also nach dem Koran als Urmuslim verstanden. Der Islam hält fest, dass der Mensch Gottes Wille erkennen und tun könne. Er kann daher nur eine allgemeine Lehre von der Gnade und Barmherzigkeit Allahs entwickeln, nichts aber weiß er von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und nichts von der ein für alle Mal geschehenen Errettung des Menschen. Die persönliche Heilszueignung, das «Pro me», findet im Islam keine Entsprechung. Ebenso sind die Suren in einem luftleeren Raum ohne Zeitangabe angesiedelt, während die Heilsgeschichte des Alten und des Neuen Bundes jederzeit mit der Weltgeschichte verflochten ist. Diese Differenzen kann man nur übersehen, wenn man den konkreten Gehalt des biblischen Zeugnissen gering veranschlagt. Einen Höhepunkt erreichte die Diskussion, als die Nähe des Islam zu einer rationalistischen und negativen Theologie vor und außerhalb aller Offenbarung durchleuchtet wurde.
Herr Seubert plädierte in seinem Schlusswort für ein Religionsgespräch, das die Wahrheitsfrage nicht ausschließen darf. Es wird auch den Dissens nicht ausklammern dürfen. Wichtig ist dabei, auch angesichts aller pragmatischen Schwierigkeiten, dass Christen auch den Muslimen das Evangelium schulden.
(Quelle: BQ 361 – Nr. 25/2015)