Integration oder Parallelgesellschaft? Vor diesem Dilemma stehen Migranten. Ihre Kultur ist kein Mantel, den sie beim Zoll einfach abstreifen könnten. Sobald sie ihren Fuss ins Gastland setzen, müssen sie die Wahl treffen, sich entweder zu integrieren und der Kultur ihrer neuen Heimat den Vorrang zu geben oder sich abzuschotten, um ihre traditionellen Werte zu bewahren.

Ich bin selbst Einwanderin. Nicht eine dieser Immigrantinnen zweiter Generation, die im Westen geboren und grossgezogen worden sind, sondern eine echte. Ich bin in einer Mittelschichtfamilie in Lahore, Pakistan, geboren und aufgewachsen. Mein Vater war Geschäftsmann, meine Mutter Hausfrau. Nach dem 11. September 2001 fürchtete meine Familie um ihre Sicherheit und Zukunft im Land. Darum stellten wir einen Einreiseantrag in Kanada, wo ich am 10. April 2005 im Alter von 17 Jahren ankam. Ich möchte in diesem Artikel erklären, dass wir Einwanderer nicht das sind, was Sie – Leute aus dem Westen – sich vorstellen.

Idealisierte Einwanderer

Wenn ich an die Vorstellung denke, die Sie sich von Immigranten, besonders von solchen aus dem südasiatischen Raum (Pakistani, Inder, Bengalen usw.) machen, kommen mir verschiedene Bilder in den Sinn. Solche von alten Männern und Frauen in traditionellen Kleidern, die lächelnd und stolz ihre ebenfalls traditionell gekleidete kleine Tochter im Arm tragen. In der Szenerie ist oft eine Moschee oder ein Tempel zu sehen und im Hintergrund eine bekannte nordamerikanische Stadt. Die Idee, Einwanderer seien „wie jedermann“, der seine Religion friedlich ausübt und die lokale Kultur annimmt, wird uns ohne Unterlass eingeredet. Getraut sich jemand, auch etwas Negatives über diese wachsenden Bevölkerungsgruppen zu sagen, wird er sofort des „Rassismus“ oder der „Islamophobie“ bezichtigt. So kann es nie einen fruchtbaren Dialog über die sehr realen Probleme der Einwanderer geben – Probleme, deren Wurzeln in ihrer eigenen Kultur liegen. Einen vorbehaltlosen Dialog würden nämlich viele Immigranten als „kulturell beleidigend“ empfinden. Die lächelnden Einwanderer, die sich von den anderen Kanadiern in nichts unterscheiden, enthüllen nur einen Teil ihres Lebens. Es gibt aber auch den Teil, den die Leute nicht sehen und nicht verstehen, der sich hinter den Türen der Einwandererfamilien abspielt, besonders wenn es um die Erziehung der Kinder im Westen geht. Sagen wir es ohne Ausflüchte: Es gibt da gewisse Probleme.

Der Umgang mit den eigenen Kindern

Stellen Sie sich vor, in einer Kultur aufzuwachsen, welche die Jugend mittels Scham kontrolliert. Stellen Sie sich vor, dass Ihr Wert als Mensch einzig und allein von Ihrer Jungfräulichkeit abhängt. Stellen Sie sich vor, dass Ihr Leben vorbestimmt ist und es keine Möglichkeit gibt, von diesem Weg abzuweichen. Stellen Sie sich vor, dass Ihre Verwandten Sie verstossen, weil Sie sich für den Besuch einer Schule für grafische Gestaltung entscheiden, anstatt an der Universität Medizin zu studieren.

Stellen Sie sich vor, in einer Religion aufzuwachsen, die lehrt, dass Ihr Glück und Ihre Sehnsüchte denen Ihrer Eltern nachgeordnet sind. Stellen Sie sich vor, dass Ihre Familie Sie verleugnet, weil Sie mit einer „fremden“ Person Kontakt pflegen, oder Ihnen mit der Hölle droht, weil Sie einen Mann heiraten, der eine andere Religion hat. Stellen Sie sich vor, man erinnert Sie bei jeder Gelegenheit daran, wieviel Sie Ihren Eltern verdanken, die Ihnen das Leben geschenkt, Sie grossgezogen, ernährt und beherbergt haben, und dass Sie diesen Ihre Dankbarkeit zeigen sollen, ohne je deren Entscheidungen in Frage stellen zu können, welches Leben für Sie das beste ist. Stellen Sie sich vor, was Sie empfänden, wenn Sie begriffen, dass die Liebe Ihrer Familie an Bedingungen geknüpft ist.

Antiwestliche Vorurteile

Fahren wir fort. Jetzt stellen Sie sich vor, Sie steckten in der Haut eines dunkelhäutigen Jugendlichen mit dunklen Augen, der ein südasiatisches Gymnasium absolviert hat und nun von weissen Personen umgeben ist. Mit grosser Wahrscheinlichkeit wüssten Sie schon manche Dinge über diese Weissen, bevor Sie ihnen persönlich begegnet sind. Sie wissen wahrscheinlich (denn das erzählt man sich in Ihrer Familie), dass diese unmoralisch sind. Die Weissen sind unmoralisch, weil sie voreheliche sexuelle Beziehungen haben, als ob dies eine banale Handlung wäre. Sie wissen auch, dass die Weissen aus falschen Motiven heiraten, z.B. aus Liebe. Darum lassen sie sich alle scheiden. Im Unterschied zu Ihnen verstehen die Weissen nicht, was eine Beziehung ist. Sie aber wissen, dass eine Heirat die Verbindung zweier Familien ist, die exakt die gleichen religiösen Wurzeln haben und in ihrer Gesellschaft sozial und wirtschaftlich gleichgestellt sind. Die Ehe bedeutet, Kinder zu haben, ohne viel mitreden zu können, wie diese erzogen werden. Denn Ihre Eltern und Verwandten würden Sie blossstellen, wenn Sie Ihre Kinder nicht „korrekt“ erzögen.

Man sagt Ihnen auch, dass weisse Jugendliche ihre Eltern verabscheuen und miserable Beziehungen zu ihnen haben, im Gegensatz zu Ihnen, die alles Mögliche für Ihre Eltern tun und kein böses Wort über sie sagen würden. Auch sind diese Weissen nicht so ehrgeizig wie Sie. Denn Sie studieren den ganzen Tag, besuchen am Abend Mathematik- und Wissenschaftskurs und erhalten immer die besten Noten, weil Sie Ihre Familie stolz machen müssen, damit sich diese bei den Verwandten in der Heimat rühmen kann. Die Weissen verstehen Ihre grossen Lebenspläne nicht, die seit Ihrer Kindheit mit unsichtbarer Tinte auf den Wänden Ihres Hauses geschrieben stehen. Die Weissen sind so unbekümmert, dass es in ihrem Leben vermutlich nichts gibt, an dem sich zu erfreuen sich lohnte. Sie verschwenden ihre Zeit mit Kunst, Musik und Sport. Wissen Sie, wer an der Universität Geschichte studiert? Ich sage es Ihnen: Weisse, die sich darauf vorbereiten, als Obdachlose zu enden. Das ist das Los, wenn man solche Dinge studiert! Ganz anders Sie. Sie streben einen Job mit sechsstelligem Salär oder einen Platz an der landesweit besten Hochschule für Medizin an.

Ich berühre das Problem nur flüchtig, doch sicher verstehen Sie, worauf ich hinaus will … Es gibt Leute, die aufgrund ihrer Unwissenheit und ihres beschränkten Horizonts solche Vorurteile äussern und ihren Kindern eintrichtern, was deren Integration im Gastland noch schwieriger macht. Das hat schwerwiegende Folgen für unsere Gesellschaft.

Dinge klar benennen

Verstehen Sie? Ich versuche nicht, die Einwanderer in einem negativen Licht darzustellen, da ich ja selbst zu ihnen gehöre. Aber ich glaube, dass das Schweigen gebrochen werden muss, das die Lebensumstände vieler von ihnen umhüllt. Und zwar vor allem deswegen, weil alles, was ich beschrieben habe, eine Art psychische Gewalt darstellt, die, wie man uns glauben machen will, normal, ja notwendig sei, um zu verhindern, dass sich unsere Kinder „zu stark verwestlichen“. Die universellen Ideen der Freiheit und der Autonomie sind wunderbar, in der Theorie, aber Ehre und Stolz gehen vor, wenn es zur Entscheidung kommt. Taktiken wie Erpressung, die Furcht, isoliert oder verstossen zu werden, oder die Drohung, die Kinder in ihre Herkunftsländer zurückzuschicken, wenn sie sich den Wünschen ihrer Eltern nicht fügen, werden zur Kontrolle unserer Jugend oft angewendet. Wir ziehen Kinder gross, die emotional behindert sowie abhängig sind und denen im Erwachsenenalter die Sicherheit fehlt. Belastet durch die Angst zu versagen oder die eigene Familie zu verlieren, umgetrieben von der Frucht, dem entsagen zu müssen, was wir wirklich tun möchten im Leben, und leidend an einem schwachen Selbstwertgefühl, werden wir daran gehindert zu erkennen, dass diese Praktiken in unseren Gemeinschaften und Kulturen verbreitet sind.

Am Arbeitsplatz, in der Schule und der Gesellschaft integrieren wir uns gut. Wir lernen, uns an die Gesetze zu halten, uns korrekt zu kleiden und uns in der Muttersprache unseres Gastlandes deutlich auszudrücken. Aber im Geiste bleiben wir Fremde. Wir werden das Leben in unserer neuen Heimat niemals ganz verstehen und akzeptieren. Wir erwägen die Freiheiten und Möglichkeiten, die uns geboten werden, ohne uns je wirklich darum zu bemühen, sie zu nutzen. Wir schätzen das neue Land, das uns aufnimmt und schützt, als Ort des finanziellen und ökonomischen, nicht aber des geistigen und emotionalen Vorankommens. Auch wenn unsere Familien ihr Land physisch verlassen haben, so bleiben wir doch in der Mentalität und Lebensart unserer alten Heimat gefangen.

Die verborgenen Leiden der Migrantenfamilien

Die Familieneinheit der Einwanderer ist eine gebrochene und tragische Wirklichkeit, über die niemand zu sprechen wagt. Wir bringen Menschen hervor, die sich den Wünschen ihres Umfeldes anpassen und keine Wellen und familiären Zwistigkeiten provozieren wollen. Wir verinnerlichen die Vorstellung, dass der Einsatz für sich selbst, die Verteidigung der eigenen Rechte und die Anerkennung als einmaliges Individuum, das vielfältige Wünsche und Bedürfnisse hat, von unseren Familien und Gemeinschaften nur Missachtung und Spott erwarten kann. Wir formen keine kundigen Bürger, die ans Gemeinwohl denken und sich für die Entwicklung der Gesellschaft engagieren wollen. Wir erziehen Schafe, die ihr Leben lang so tun, als wäre alles in Ordnung, und die auf ihr Recht verzichten, eigene Entscheide zu fällen, oder noch schlimmer, die noch nicht einmal die Erfahrung machen werden, wie wunderbar und erfüllend das Leben sein kann.

Übertreibungen?

Manche werden bei der Lektüre dieses Artikels denken, ich übertreibe. Manche, die aus dem Milieu stammen, über das ich rede, werden sagen, sie hätten noch keine solchen Situationen erlebt, und meine Einschätzung anzweifeln. Ich verstehe, wie schwierig es ist, über unsere Identität und unsere Ursprünge nachzudenken und zuzugeben: „Wissen Sie was? So zu leben ist wirklich ungesund.“ Aber wir müssen es tun. Wir müssen die kollektiven Schmerzen und die verborgenen Leiden anerkennen, die wir mit uns tragen; sei es, weil wir sie selbst erfahren, sei es, weil wir sehen, wie andere darunter leiden. Wir müssen uns zusammentun und wagen, diese schwierigen Themen anzusprechen, jeder für sich sowie miteinander. Nur so können wir auf eine Veränderung hoffen. Doch das wäre nur ein erster Schritt.

Quelle: https://iqri.org/integration-ou-communautarisme/

Übersetzung: Zukunft CH