Die umstrittene sexualpädagogische Fachorganisation Sexuelle Gesundheit Schweiz (SGCH) steht weiterhin stark in der Kritik. CVP-Nationalrat Fabio Regazzi stellt in einem Vorstoss explosive Fragen zum Expertenbericht, mit dem der Bundesrat im Februar 2018 SGCH von jeder Kritik entlastet hat. Bereits eine im August 2018 veröffentlichte Analyse des Expertenberichts konnte aufzeigen, dass der Bundesrätliche „Freispruch“ gravierende Mängel aufweist.

Von Dominik Lusser

Der Bundesrat hat am 21. Februar 2018 einen Expertenbericht zur umstrittenen Partnerorganisation des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) vorgelegt. Der 176 Seiten umfassende Bericht vermeintlich unabhängiger Experten, die vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) selbst ausgewählt worden waren, ist die Antwort auf ein Postulat des Tessiner Nationalrats Regazzi. Der CVP-Vertreter hatte 2014 die Präventionsarbeit von SGCH scharf kritisiert und eine „unabhängige wissenschaftliche Untersuchung“ der theoretischen Grundlagen der umstrittenen Organisation gefordert. Doch der vom Bundesrat vorgelegte und seit seinem Erscheinen umstrittene Expertenbericht entlastete SGCH vollumfänglich.

Eine im August 2018 von der Stiftung Zukunft CH veröffentliche kritische Analyse des Expertenberichts konnte zeigen, dass im Gegensatz zu den expliziten Forderungen des Postulats weder die Unabhängigkeit der Experten von SGCH eingehalten noch dem Kriterium einer wissenschaftlichen Untersuchung entsprochen wurde. Damit scheint eingetreten zu sein, wovor Zukunft CH den zuständigen Bundesrat Alain Berset in einem persönlichen Scheiben vom September 2017 gewarnt hatte: Sollte das BAG statt einer kritischen Auseinandersetzung nur die Bestärkung seiner engsten Partnerin im Bereich sexuelle Gesundheit anstreben, „wäre dies der Glaubwürdigkeit des zu erwartenden Berichts sowie einer breiten gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung über schulische Sexualpädagogik abträglich.“

Basierend auf ihrer Analyse (Echokammer „Sexuelle Gesundheit Schweiz“ – Der Expertenbericht zum Postulat Regazzi unter der Lupe) hat Zukunft CH im August 2018 brieflich Fragen an den Bundesrat und an Alt Ständerätin Christine Egerszegi, Präsidentin der BAG-Expertengruppe, gerichtet. Während Egerszegi in ihrer Antwort inhaltlich auf keine der Fragen einging und so eine kontroverse Debatte de facto verweigerte, hat der Bundesrat bisher noch gar nicht geantwortet.

Diese Reaktionen sind vielleicht nicht überraschend. Doch stehen sie im Widerspruch zu den Empfehlungen der von Egerszegi präsidierten Expertengruppe. Diese rät dem durch SGCH angeführten Netzwerk „Allianz für Sexualaufklärung“, sich „im Sinne der pluralen Gesellschaft“ verstärkt um einen Dialog mit Fachpersonen und Meinungsbildnern aus Gruppen mit wertekonservativer Grundhaltung zu bemühen (vgl. Expertenbericht, S. 100). Dass sich Egerszegi von der Dialogbereitschaft, die sie anderen verordnet, selbst ausnimmt, ist bedenklich, aber gleichzeitig auch bezeichnend für die Entstehung des Expertenberichts, die weitgehend als Austausch unter Gleichgesinnten vonstatten ging.

Interpellation mit brisanten Fragen

Offensichtlich sehr unzufrieden mit der Umsetzung seines Postulats, hat nun Nationalrat Regazzi am 12. September 2018 eine Interpellation mit brisanten Fragen zum Expertenbericht eingereicht. Der Vorstoss, der sowohl die Wissenschaftlichkeit also auch die Unabhängigkeit des Berichts massiv in Frage stellt, im Wortlaut:

Der Bundesrat hat im Februar 2018 den „Expertenbericht: Sexualaufklärung in der Schweiz“ (EB) veröffentlicht, den eine vom BAG zusammengesetzte Expertengruppe erarbeitet hat. Die diesem Bericht zugrundeliegende Situationsanalyse wurde bei „Public Health Services“ und „Swiss TPH“ in Auftrag gegeben. Laut dem Postulat Regazzi hatte der EB das Ziel, die Arbeitsgrundlagen von „Sexuelle Gesundheit Schweiz“ (SGCH) „durch eine insbesondere von SGCH unabhängige Expertenkommission“ wissenschaftlich zu prüfen.

  1. Laut Antworten des BAG und von Christine Egerszegi (Präsidentin der Expertengruppe) auf diverse Anfragen wurde zwar sichergestellt, dass die ehemalige SGCH-Stiftungsratspräsidentin Elisabeth Zemp, die beim „Swiss TPH“ arbeitet, nicht zu den Autoren der Situationsanalyse gehören kann. Eine informelle Beteiligung Zemps wurde hingegen den beauftragten Instituten überlassen. Hat Elisabeth Zemp am EB in irgendeiner Weise mitgearbeitet?
  2. Claudia Kessler von „Public Health Services“, Hauptautorin der Situationsanalyse, war bis 2012 in führender Stellung bei der „Concept Foundation“ engagiert, die seit ihrer Gründung eng mit IPPF, der weltweiten Dachorganisation von SGCH, zusammenarbeitet. War dieser Zusammenhang, der Kesslers Neutralität in Frage stellt, dem BAG bekannt?
  3. Welche Frist wurde für die Ausschreibung der Situationsanalyse gesetzt? Wie viele Institute wurden angeschrieben? Wie viele haben geantwortet? Hatten die beauftragten Institute schon im Voraus Kenntnis von der Ausschreibung?
  4. Kessler bringt die Kritik an der SGCH-Sexualpädagogik mit dem „postfaktischen Zeitalter“ (S. 69) in Verbindung. Hält der Bundesrat solche Diffamierungsversuche in einem wissenschaftlichen Bericht für zielführend und angemessen?
  5. Empirische Studien zum kindlichen „Sexualverhalten“, auf die sich eine zentrale Quelle des EB stützt (Bettina Schuhrke, Referat bei SGCH-Tagung 2015; vgl. EB, S. 56 f.) zeigen: Entsprechendes Verhalten ist sehr selten, bei missbrauchten Kinder allerdings häufiger als bei anderen. Schuhrke und der EB ziehen aus diesen Studien, die auf dem sogenannten Child Sexual Behavior Inventory-Fragebogen beruhen, allerdings den Schluss, kindliches Sexualverhalten sei normal und wichtig für die Entwicklung. Hält der Bundesrat solche Schlüsse für wissenschaftlich begründet?

Raus aus der Filterblase

Regazzis Interpellation, die nur einen kleinen Teil der Probleme im Expertenbericht aufzeigt, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Es liegt nun an Politik, Gesellschaft und Medien, vom Bundesrat detailliert und mit Nachdruck Rechenschaft über diesen Skandal-Bericht einzufordern oder gar – was nicht unverhältnismässig wäre – eine Neuauflage desselben zu verlangen. Denn der vom Bundesrat der Öffentlichkeit präsentierte Bericht ist weder wissenschaftlich noch unabhängig, sondern eine Behördengefälligkeit gegenüber einer hochumstrittenen NGO, deren Einfluss auf das BAG mittlerweile besorgniserregende Dimensionen angenommen hat.

Diese Zusammenhänge müssen endlich offen angesprochen werden. Denn es ist von vorrangigem Interesse für Kinder und Jugendliche, dass die Diskussion über gute schulische Sexualpädagogik endlich offen, kontrovers und basierend auf wissenschaftlichen Befunden geführt wird. Doch dies kann erst gelingen, wenn die sexualpädagogische Filterblase rund um die Quasi-Monopolistin SGCH endlich zum Platzen gebracht wird, die seit langem ein ideologisches Eigenleben abseits der relevanten wissenschaftlichen Disziplinen fristet.