Die Medien werden oft als „vierte Gewalt im Staat“ bezeichnet. Zwar haben sie im Gegensatz zu Exekutive, Legislative und Judikative keine eigene Gewalt zur Änderung der Politik oder zur Verfolgung von Machtmissbrauch. Wie sehr sie dennoch Politik und Gesellschaft durch Berichterstattung und Diskussionen beeinflussen, zeigt sich in öffentlichen Debatten um Themen wie „Ehe für alle“, Gender, Lebensrecht oder dem Islam. Ein Mainstream dominiert weite Teile der Medienlandschaft. Lohnt sich da ein Gegensteuern? Beatrice Gall von Zukunft CH im Gespräch mit Giuseppe Gracia, Schriftsteller und streitbarem Mediensprecher des Bistums Chur.

Zukunft CH: Herr Gracia, wie fühlt man sich als Mediensprecher im aktuellen medialen Mainstream? Sagen Sie noch, was Sie denken?

Gracia: Es ist nicht immer einfach. Echte Zeitkritik scheint nicht willkommen. Ich meine Kritik an den moralischen oder kulturellen Standards, wie die veröffentlichte Mehrheit sie gerade für richtig hält. Kirchenkritik, ja. Kritik an klassischen Werten oder Lebensmodellen, ja. Aber Kritik am linksgrünen Zeitgeist? Lieber nicht. Da gilt man schnell als rückständig.

Zukunft CH: In den letzten Monaten gab es zahlreiche Vorfälle (z.B. die Angriffe gegen die Firma Läderach oder den „Marsch fürs Läbe“), die zeigen, dass es aktuell nicht „in“ ist, sich für das Lebensrecht zu äussern. Warum macht das Thema Menschen so aggressiv?

Gracia: Viele denken, es gehe hier darum, die Selbstbestimmung der Frau zu verteidigen. My Body, my choice (Mein Körper, meine Wahl). Wenn dem so wäre, würde ich ebenfalls dafür kämpfen. Aber bei den weltweit über 50 Millionen Abtreibungen, die jährlich verzeichnet werden, sind es in der Regel gesunde Frauen, die ein gesundes Baby abtreiben. Diese Frauen bestimmen nicht über sich selber, sondern über das Lebensrecht anderer Menschen. Als Liberaler sage ich: Meine Freiheit hört da auf, wo die Freiheit des anderen beginnt. Auch eine Frau hat nicht das Recht, über das Leben anderer zu entscheiden.

Zukunft CH: Wo zeigen sich derzeit Einschränkungen der Meinungsfreiheit?

Gracia: Es gibt Einschränkungen im Sinne sozialer oder beruflicher Nachteile für Abweichler. Dies gilt für die meisten kontroversen Themen. Beispiel Migration: Hier herrscht das Dogma der offenen Grenzen, sofern keine Krisen herrschen wie bei Corona. Wer dagegen argumentiert und eine andere Migrationspolitik vertritt, wird als Rassist gebrandmarkt. Oder Islam: Hier gilt das Dogma, dass Extremisten diese Religion missbrauchen, wenn sie Passanten in die Luft jagen oder Frauen steinigen. Wer davon abweicht, gilt als islamophob. Oder Feminismus: Hier gilt die Meinung, Frauen seien erst dann frei, wenn sie Karriere machen und dafür auch ihre Kinder abtreiben dürfen. Wenn man sagt, Freiheit und Liebe gehören zusammen, Frauen und Männer können nicht glücklich sein, wenn Arbeit und Karriere im Mittelpunkt stehen statt Beziehungen, statt Familie, Kinder, Freunde – dann gilt man als rückständig.

Zukunft CH: Gibt es noch andere Themen, bei denen man sich anpassen muss?

Gracia: Klima, Gender, Religion, Sterbehilfe: Wer die linksgrüne Weltsicht auf diese Themen öffentlich in Frage stellt, wird in die rechte Ecke abgeschoben und oft diffamiert.

Zukunft CH: Gibt es für abweichende Meinungen keine Toleranz mehr?

Gracia: Eine diskursfähige Gesellschaft müsste sagen: In vielen Fragen gibt es einen nicht aufhebbaren, weltanschaulichen Pluralismus. Bei der persönlichen Moral oder der Gestaltung des Zusammenlebens werden die Sichtweisen stets auseinandergehen. Toleranz bedeutet: Ich halte das aus. Ich akzeptiere, dass andere die Welt anders sehen und gestalten möchten. Ich verzichte darauf, diese Menschen deswegen als rückständig, extrem oder böse darzustellen. Ich mag ihre Ideen ablehnen, aber nicht sie als Menschen. Wo treffen wir heute auf eine solche Haltung? Wer unterscheidet zwischen Kritik an einer Idee und Kritik an der Person? Heute bedeutet Toleranz: Ich bin tolerant, wenn mich die moralisch Guten so bezeichnen. Intolerant sind dann alle anderen.

Zukunft CH: Wie kommt es zu dieser Tendenz?

Gracia: Wenn die linksgrüne Weltsicht in den Medien dominiert, erscheinen alle Ansichten, die nicht diesem Weltbild entsprechen, als rechts. Die bürgerliche Mitte? Die ist auch rechts. Und rechte Ansichten können unmöglich von guten, anständigen Menschen kommen. Menschen mit rechten Ansichten sind gefährlich, oder zumindest moralisch minderwertig. Aber eigentlich ist die Debatte, der Wettbewerb der Ideen, eine klassische Tugend des westlichen Liberalismus. So wie die Meinungs- und Religionsfreiheit. Ich glaube, viele ertragen das nicht mehr. Sie ertragen die Freiheit des anderen nicht, wenn er in ihren Augen dumme oder falsche Ansichten äussert. Die meisten wollen, dass sich die richtige, eigene Weltanschauung durchsetzt. Macht- und Parteienpolitik statt Wettbewerb der Ideen. Hinzu kommt ein Phänomen, das man kulturelle Selbstverachtung nennen könnte. Einige Politiker, Medienleute oder Kulturschaffende propagieren ein sehr negatives, imperialistisches Bild des Westens, als seien wir an allen Übeln der Welt schuld. Das führt dazu, dass wir andere Kulturen wie Kuscheltiere unseres schlechten Gewissens behandeln und uns für die eigene Kultur schämen.

Zukunft CH: Was kann man dagegen tun?

Gracia: Es braucht wohl jahrzehntelange Arbeit im Bildungsbereich. Aufklärung über die Errungenschaften des Westens, gerade auch im Vergleich zu den nicht-westlichen Kulturen. Ich persönlich versuche, die Situation vom öffentlichen Diskurs her zu analysieren. Aufklärung über die Art und Weise, wie Debatten geführt werden. Über Methoden der Diffamierung zum Beispiel. Die Leute sollen verstehen, wie diese funktionieren, um sie besser zu erkennen und sich zu wehren. Sie sollen verstehen: Wer nicht unterscheiden kann zwischen Diffamierung von Menschen und Kritik an ihren Ideen, der ist nicht fähig oder nicht willens, eine tolerante Gesellschaft mitzutragen. Begriffe wie „Hate Speech“ (Hassrede), Abtreibungshasser, Ultrakonservativer, Fundamentalist zeigen, dass hier nicht Ideen abgelehnt werden, sondern Menschen, mit denen man nicht einverstanden ist. Negative Etikettierung der Person, um abweichendes Denken unglaubwürdig zu machen. Christliche Stimmen zu Ehe, Familie, Sexualität werden inzwischen fast gewohnheitsmässig als Extremismus und Hassrede gegen Frauen oder Homosexuelle dargestellt.

Zukunft CH: Ist es nicht legitim, gegen Diskriminierung vorzugehen?

Gracia: Diskriminierung widerspricht nicht nur dem Toleranzprinzip, sondern auch dem Christentum. Meinungs- und Glaubensfreiheit sind kein Freipass für Hetze. Aber umgekehrt darf nicht alles als Hetze gelten, was einem nicht passt. Die christliche Sicht auf Ehe oder Sexualität ist nicht Hetze oder Hass, sondern einfach eine andere, gegen den Zeitgeist stehende Sicht auf diesen Lebensbereich. Diese Sicht öffentlich zu vertreten, ohne dafür als Mensch diffamiert zu werden, muss in einer offenen Gesellschaft Platz haben. So wie atheistische, buddhistische, islamische, grüne, rote, blaue oder schwarze Ansichten Platz haben müssen. Je belebter der Wettbewerb der Ansichten, desto besser. Demokratie lebt von der Debatte, von der kreativen Frucht der Auseinandersetzung.

Zukunft CH: Lohnt sich ein Einbringen überhaupt noch? Soll man sich der öffentlichen Diffamierung aussetzen, der Aggression und dem Shitstorm?

Gracia: Natürlich lohnt es sich. Viele Meinungsmacher, die im Moment Oberwasser haben, sind in Wahrheit reine Zeitgeist-Papageien und Opportunisten, in den Medien, in der Politik, unter sogenannten Intellektuellen. Leute, die sich in der Öffentlichkeit als mutige Progressive inszenieren, sich aber in die Hosen machen und ihre Meinung ändern, sobald die Mehrheitsstimmung kippt. Leute, die immer mit dem Strom schwimmen, weil es ihnen nur um die eigene Position geht. Die wollen natürlich, dass niemand gross dazwischenfunkt. Die wollen, dass abweichende Stimmen schweigen. Und genau diesen Gefallen dürfen wir ihnen nicht tun. Wir müssen reden statt schweigen.

Zukunft CH: Noch beherrscht Corona viele Medienberichte. Was halten Sie davon?

Gracia: Aufklärung über Corona ist wichtig. Aber man darf nicht vergessen, dass wir noch andere Themen haben. Sei es Migration, EU, Nahost oder die bedenkliche Zunahme nicht nur des rechten Antisemitismus, sondern auch des islamischen oder linken Antisemitismus, die ihre antijüdischen Ressentiments hinter Israelkritik verstecken. In Westeuropa beobachte ich ausserdem mit Sorge einen praktisch-technischen Atheismus der Optimierung, der unser Leben dominiert. Corona hin oder her: Der Alltag vieler Menschen bleibt eine relativ atemlose Pendelbewegung zwischen Leistung und Konsum. Davon werden übrigens auch die Kirchen und christlichen Gemeinschaften nicht verschont.

Zukunft CH: Was können die Kirchen da tun?

Gracia: Sie sollten sich um die realen Nöte und Lebensfragen der Menschen kümmern. Die Coronavirus-Krise zeigt, in welche Richtung es gehen könnte. Nach den Notmassnahmen der Regierung konnten keine Gottesdienste mehr stattfinden, keine Versammlungen, um den Glauben zu feiern. In so einer Situation interessiert sich niemand für ein Zeitgeist-Christentum mit Gender-Sternchen. Vielmehr erwacht ein tieferes Bedürfnis nach Gott, nach dem liebenden Trost einer heiligen Gegenwart. Das zeigt, in welche Richtung die Kirche grundsätzlich gehen sollte: Räume schaffen für die Sehnsucht nach Gott, für die Begegnung mit einer liebenden Transzendenz, die weit über Corona und die Leiden der Welt hinausgeht.

Zukunft CH: Vielen Dank für das Interview, Herr Gracia.

Giuseppe Gracia, verheiratet, zwei Kinder, ist Schriftsteller, Kommunikationsberater und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Er ist Kolumnist für den „Blick“ und Gastautor in anderen Medien (NZZ, Focus online etc.). Mit seinen Publikationen sorgt er regelmässig für Aufmerksamkeit, wie mit seinem letzten Buch „Das therapeutische Kalifat“ (Fontis, 2018).

Das Interview erschien im Magazin 3/2020 von Zukunft CH, welches über das Bestellformular nachbestellt werden kann: Magazinbestellung