Mit sechs Verhandlungstagen in Folge vom 4. bis zum 11. September ging der Prozess gegen die Mörder von drei Christen im osttürkischen Malatya in eine neue Phase. Angeklagt sind jetzt als mutmassliche Hintermänner auch hochrangige Vertreter aus Militär und Universität, so z.B. der pensionierte General Hursit Tolon sowie Ruhi Abat, Professor für islamische Fundamentaltheologie an der Inönü-Universität von Malatya. Hauptzeuge für deren Verwicklung in die Morde an den drei Christen im Jahr 2007 ist der Agent der Gendarmerie Ilker Cinar. Cinar hatte sich einige Jahre lang als Christ ausgegeben und auch Verantwortung in einer christlichen Gemeinde in Tarsus übernommen. Anfang 2005 hatte er im türkischen Fernsehen Aufsehen erregt, als er live erklärte, wieder Muslim geworden zu sein. In der Folge trat er intensiv mit Beschuldigungen gegen christliche Missionare an die Öffentlichkeit, unter anderem durch die Publikation eines Buches. Später wurde bekannt, dass Cinar schon seit längerem vom Geheimdienst der Gendarmerie bezahlt wurde.
2011 wurde schliesslich in der türkischen Presse gemeldet, dass Cinar (anfangs unter Pseudonym) als Zeuge zum Malatya-Prozess ausgesagt habe. Durch die neue Anklagschrift ist aktenkundig, dass er dabei militärische Kreise beschuldigte, im Rahmen von „Ergenekon“, einer mutmasslichen Verschwörung gegen die türkische Regierung, wesentlich in die Morde von Malatya verwickelt gewesen zu sein. Als Beweismittel lieferte er unter anderem Tonaufzeichnungen von geheimen Treffen zwischen ihm und diesen Hintermännern der Morde. Aus Angst um seine Sicherheit erschien Ilker Cinar bisher nicht persönlich vor Gericht. Die von Cinar beschuldigten Personen bestreiten bisher jede Verwicklung in die Morde an Christen.

Von allen Seiten unbestritten ist jedoch, dass zahlreiche Christen in Malatya und an anderen Orten der Türkei offiziell beschattet wurden, weil missionarische Tätigkeit als staatsgefährdend eingestuft wurde. Die Telefone zahlreicher Christen vor und sogar noch nach den Morden von Malatya wurden auf Antrag der Gendarmerie und mit gerichtlicher Genehmigung abgehört. Laut der neuen, 761 Seiten langen Anklageschrift, die BQ im vollen Wortlaut vorliegt, wurde zum Beispiel Susanne Geske, Witwe des ermordeten deutschen Christen Tilmann Geske, nach dem Mord an ihrem Mann 16 Monate lang abgehört. Ebenso betroffen waren z.B. auch der Pastor der protestantischen Gemeinden von Diyarbakir, Ahmet Güvener, und der Istanbuler protestantische Pastor Behnan Konutgan. Konutgan, der auch Präsident des türkischen Zweiges des Martin Seminars ist, steht aufgrund diverser Morddrohungen zudem weiterhin unter polizeilichem Personenschutz.

Wie der Generalsekretär der Evangelischen Allianz der Türkei, Umut Sahin, Izmir, mitteilte, sei nach Neuaufnahme des Prozesses deutlich geworden, dass der kurzfristige Austausch von zwei Staatsanwälten und zwei beisitzenden Richtern im Malatya-Prozess die Aufklärung der Morde deutlich behindere und erschwere. Einzig der vorsitzende Richter, Hayrettin Kise, der im Amt geblieben ist, sei noch mit der umfangreichen Aktenlage und den komplexen Sachverhalten des bisherigen Prozessverlaufes genügend vertraut.

Die Fortsetzung des Prozesses in Malatya ist für den 12. November terminiert.

Quelle: BQ 217, Nr. 24/2012