Weil eine „weisse Künstlerin“ Dreadlocks trug, darf sie bei „Fridays for Future Hannover“ nicht auftreten. Der Grund: Mit ihrer Frisur hätte sie sich eine andere Kultur angeeignet, ohne die systematische Unterdrückung dahinter zu erleben. Ein Fall, der an Absurdität kaum mehr zu überbieten ist.

 Ein Kommentar von Ralph Studer

Was sind „Dreadlocks“, werden sich viele Leser vielleicht fragen. Dreadlocks, kurz Dreads, auch Filzlocken, sind Strähnen verfilzter Kopfhaare. Diese können sich unter Umständen selbst entwickeln, wenn das Haar längere Zeit nicht gekämmt oder geschnitten wird; die Verfilzung wird jedoch meist durch Hilfsmittel künstlich herbeigeführt. Das Tragen von Dreadlocks galt als kühne Handlung von Sklaven in früherer Zeit und in heutiger Zeit von Afroamerikanern. Dreads gelten in gewissen Kreisen als Rebellion gegen Unterdrückung und als Teil einer kulturellen Identität. In vielen Künstlerkreisen, unter Jugendlichen oder jungen Erwachsenen sind Dreadlocks aber bereits seit Jahrzehnten beliebt und werden einfach als „coole Frisur“ getragen.

Privates Handeln zusehends als politisches Handeln eingestuft

Dass Dreadlocks aber für Künstler auf einmal zu einem Politikum werden können und getragen an weissen Frauen ein Absagegrund für ein Konzert sein können, musste nun Ronja Maltzahn, eine Künstlerin aus Hannover, am eigenen Leib erfahren. Für die Klimabewegung „Fridays for Future“ waren ihre Dreadlocks nicht vertretbar. Bei ihren globalen Streiks würden sie auf ein „antikolonialistisches und antirassistisches Narrativ“ setzen, weshalb eine weisse Frau keine Dreadlocks haben dürfe, so „Fridays for Future“. Ronja Maltzahn zeigte sich enttäuscht und bedauerte die Absage. Sie wollte mit ihrer Musikgruppe ein Zeichen für Frieden und gegen Diskriminierung setzen, so die Künstlerin (Fridays for Future: Sängerin mit Dreadlocks darf nicht auftreten, NZZ, aufgerufen am 24.3.2022).

Dieses Vorgehen gegen Ronja Maltzahn ist exemplarisch für ein heutzutage weit verbreitetes gesellschaftliches Phänomen: Privates Handeln wird zusehends als politisches Handeln eingestuft. Eine Privatsphäre ist nicht mehr existent. Ronja Maltzahn trug offenbar Dreadlocks, weil es ihr gefiel. Nicht mehr und nicht weniger. Die selbsternannten Moralisten von Fridays for Future, welche offenbar neben Klimawandel auch „jegliche Beseitigung von Unterdrückung und Diskriminierung“ auf ihre Fahne geschrieben haben, sahen in den Dreadlocks eine Kulturaneignung und kolonialistisches Verhalten, das es zu ahnden gilt. In freundlichem, aber klarem Ton.

Neben der Frage, was eine Frisur eigentlich mit dem Klima zu tun hat (wenn es nicht gerade um die Verwendung von dem Klima schadenden Handlungen und Haarpflegemittel o.Ä. geht), ruft die Aktion Kopfschütteln hervor. Und ohne es zu merken, initiiert man mit solchen Aktionen genau das, was man zu bekämpfen vorgibt: Die Diskriminierung aus der Vergangenheit wird zur Diskriminierung und Ausgrenzung in der Gegenwart – hier am Beispiel von Ronja Maltzahn. Menschen werden zusehends normiert, an den Pranger gestellt und verurteilt. Neben der Förderung von Diskriminierung disqualifiziert sich eine Bewegung mit solchen Aktionen auch selbst.

Mehr Gelassenheit

Es würde unserer Gesellschaft gut anstehen, mit mehr Gelassenheit und Zuversicht unsere Mitmenschen zu betrachten. Es ist richtig, dass in der Vergangenheit gravierende Ungerechtigkeiten passiert sind, aus denen wir unsere Lehren ziehen sollten. Das ist eine Tatsache. Passen wir jedoch auf, dass wir nicht durch unsere „moralischen Urteile“ neue Ungerechtigkeiten schaffen und Menschen ins Abseits setzen und ausgrenzen. Nicht jedes Wort, jede Handlung und Äusserlichkeit wie hier die „Dreadlocks“ können in eine Waagschale geworfen werden, um über unsere Mitmenschen ein Urteil zu fällen und immer und überall Diskriminierung oder Ungerechtigkeit zu wittern. Eine alte indianische Weisheit sagt: „Beurteile nie einen Menschen, bevor du nicht mindestens einen halben Mond lang seine Mokassins getragen hast.“ Ein Spruch, den man sich etwas mehr zu Herzen nehmen sollte.

Hoffen wir, dass der Fall Ronja Maltzahn keine Schule macht, sonst zerstören wir genau das, was wir anstreben: Ein lebenswertes Leben in einer lebenswerten Gesellschaft.