Am Hauptquartier der Europol im niederländischen Den Haag sind die Gesichter ernst: Es gibt Anzeichen für eine neue Welle meist islamischer „Flüchtlinge“ auf Europa wie schon 2015. Heute wie damals handelt es um keine spontane Fluchtbewegung von Kriegsvertriebenen – wie sie jetzt z.B. aus Äthiopien tatsächlich kommen – oder Sozialmigranten, die Hunger, Not und Krankheiten in der Heimat zu entrinnen hoffen: Die Völkerwanderung vor sechs Jahren war geplant und gelenkt, wobei v.a. der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan eine entscheidende Rolle gespielt hat.

Von Heinz Gstrein, Orientalist

Als Möchtegern-Führer der islamischen Welt könnte es Erdogan – so lässt sich durchaus vermuten – auch darum gegangen sein, potentielle Dschihadisten nach Europa einschleusen. Denn tatsächlich handelt es sich auch bei den heutigen Attentätern um damals „unbegleitete Jugendliche“, die auf der Balkanroute oder übers Mittelmeer gekommen waren. Zudem wollten die Türken vor allem nach Mitteleuropa eine möglichst grosse Wohnbevölkerung von Muslimen bringen, um entsprechenden Einfluss auszuüben. Schliesslich haben Erdogan und Co von den Europäern Milliarden Euro nahezu „erpresst‟, um die Flüchtlingsmassen zurückzuhalten auf dem Weg nach Europa abzuhalten.

Weitere Diktatoren als Nachahmer

Dieses Katz- und Mausspiel der Türkei ahmen inzwischen andere Diktatoren nach, so der weissrussische Machthaber Alexander Lukaschenko. Angesichts des Stroms von Migranten, der inzwischen nach der polnischen schon die deutsche Grenze erreicht hat, erwartet Europol eine Eskalation der Flüchtlingskrise wie 2015, „wenn nicht zügig gehandelt wird“. Die Situation müsse ernst genommen werden in Anbetracht der mittlerweile bis zu 1000 täglich ankommenden Migranten an der deutschen Grenze. „Das sind Alarmsignale, die darf man keine 14 Tage mehr vor sich herschieben,“ heisst es in Den Haag. Andernfalls werde man einen „Kollaps erleben, wie wir ihn 2015 an der Südgrenze hatten.“ Europol fordert, temporär Grenzkontrollen zu Polen vorzunehmen und Fluglinien, die mit dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko zusammenarbeiten, zu sanktionieren und die EU-Aussengrenzen mit Unterstützung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex besser zu schützen.

Noch sind die Migranten mehr als 1000 Kilometer von der Schweiz entfernt. Aber auch 2015 hatten die sie den weiten Weg hinter sich gebracht zu den Grenzen der Alpenländer. Seit August haben tausende muslimische Migranten – meist aus dem Nahen Osten und Afrika – versucht, die polnische Grenze von Belarus aus zu überqueren. Warschau hatte in den vergangenen Wochen bereits tausende Soldaten an der Grenze stationiert, einen Stacheldrahtzaun errichtet und den Ausnahmezustand im Grenzgebiet verhängt. Die EU geht bei dem Andrang von Flüchtlingen von einer Vergeltungsaktion Lukaschenkos für Brüsseler Sanktionsbeschlüsse aus. Vermutet wird, dass die belarussischen Behörden die Flüchtlinge gezielt an die europäischen Grenzen schleusen.

Seeweg über die Ägäis 

Inzwischen macht auch im Südosten Erdogan seine seit 2015 oft wiederholte Drohung mit einer neuerlichen Flüchtlingswelle wahr. Nachdem sich Griechenland mit einem festen Zaun an der Landgrenze gegen die Türkei abgesichert hat, wird der „Seeweg“ über die Ägäis zunehmend beliebter, obwohl die Zeit der Stürme und bedrohlich hohen Wellengänge mit dem Oktoberende schon eingesetzt hat. Jetzt sind es aber keine überladenen Nussschalen, die griechische Inseln ansteuern. Die Türken schicken Frachtschiffe mit mehreren hundert Menschen an Bord wie jenes, das Anfang November vor Kreta in Seenot geraten ist.

Explosive Stimmung in Syrien

Unterdessen spielt Erdogan wieder gefährlich in Syrien mit dem Feuer, was zusätzliche Flüchtlingswellen bedeuten könnte. Das Parlament in Ankara hat eben den türkischen Militäreinsatz in Syrien verlängert, der am 30. Oktober 2021 abgelaufen war. Zur Begründung führt der Antrag von Verteidigungsminister Hulusi Akar jüngste Angriffe der syrischen Kurden mit Autobomben und Raketen in den von der Türkei besetzten Gebieten im Norden Syriens und auch auf türkischem Boden ins Treffen. Kenner der Lage weisen aber auf eine wieder allgemein explosivere Situation in Syrien hin, dessen zehnjähriger Bürgerkrieg 2020/21 abgeflaut war. Da wollen die Türken freie Hand haben, falls sich die über dem Nachbarland neu aufziehenden Wolken in einem grösseren Kampfgewitter entladen sollten.

Dessen erstes Wetterleuchten gab es schon mitten in Damaskus an der Assad-Brücke. Dort fanden 14 Heeresoffiziere den Tod durch in einem Militärbus versteckte Sprengsätze. Es handelte es sich offenbar um einen Vergeltungsakt für die Hinrichtung von 24 Widerstandskämpfern gegen das syrische Diktatur-Regime. Für den Anschlag übernahm eine „Saraya Qassioun“ (Kassion-Brigade) die Verantwortung, die sich nach dem Hausberg von Damaskus, dem Dschebel Kassion, nennt. Sie konzentriert sich seit Sommer 2019 auf Attentate mitten in der Hauptstadt unter der Nase von Baschir a-Assad und hat obendrein höhere Angehörige von dessen Streitkräften im Visier, bevorzugt brutale Vertreter aus der berüchtigten 4. Panzerdivision. Die Untergrundkämpfer agieren auch bevorzugt in Schiitenvierteln – so Nahr Aische – von Damaskus, was sie als weiterkämpfenden „Werwolf“ des extrem sunnitischen „Islamischen Staates“ nach der Zerschlagung von dessen syrischem Territorium einordnen lässt.

Assads Spitzel sind der „Saraya“ bisher nicht auf die Schliche gekommen. Vergeltung für den explodierten Offiziersbus wurde daher anderswo, im nordsyrischen Idlib genommen, wo verschiedene Bürgerkriegsgruppen bisher unter türkischem Schutz überleben durften. Nach der blutigen Bombardierung einer Volksschule mit Kindern und Zivilisten als Opfer, dürfte sich die Türkei berufen fühlen, ihr „Ordnungswerk“ in Nordsyrien fortzusetzen und die Operationen „Euphrat-Schild“ sowie „Friedensfrühling“ in diesem Spätherbst fortzusetzen. Ihr Ziel dürfte nicht nur das von der türkenfeindlichen kurdischen YPG gehaltene Tal Rifaat, sondern ebenso ganz Idlib sein. Dort könnte die Türkei als Retterin der zusammengedrängten Reste vom syrischen Widerstand gegen Diktator Baschar al-Assad Punkte sammeln.

Libanons wirtschaftliche Katastrophe

Auch im krisengeschüttelten Libanon hat Erdogan die Hand im Spiel, seit zwei türkische E-Werk-Schiffe für Linderung der Beiruter Energieversorgungspanne sorgen. Die wirtschaftliche Lage ist inzwischen so katastrophal, dass niemand mehr aus einem der Nachbarländer in die einst libanesische „Schweiz des Nahen Ostens“ flüchtet. Hingegen dürften bald die ersten Flüchtlinge aus Libanon in der Schweiz auftauchen …