Vieles geschieht in den Schulen, sehr vieles. Der Betrieb ist intensiv. Doch wirkt es auch, das viele? Und warum werden nationale Vergleichsresultate nicht publiziert?

Von Carl Bossard

„Frau mit Klasse“ – mit diesem doppelbödigen Titel überschrieb der Tages-Anzeiger vor Kurzem die Alltagssituation einer Lehrerin. (1) Der Bericht führt in das pädagogische Parterre. Leserinnen und Leser erleben eine Pädagogin, die ihren Beruf liebt und für die Kinder vital präsent sein möchte.

Unterricht verkommt zum Nebenher-Job

Doch wer in dieses Geschehen hineinzoomt, erkennt schnell, was dieses Engagement auch behindert: Koordinationen und Kontrollen kosten Zeit, viel Zeit. Da dominieren Absprachen in Jahrgangsteams und Fachgruppen, da erhalten Evaluation und Dokumentation Priorität, da verdrängen „ein Berg von Administration“ und „schwerfällige Bürokratie“ das Wesentliche und Eigentliche. Alles wird wichtig, nur das „Kerngeschäft“ kommt zu kurz. Das schale Gefühl, nur noch nebenher zu unterrichten, wird stärker und stärker.

Pädagogisches Wirken in drei Kreisen

Lehrerinnen und Lehrer bewegen sich in drei Handlungsfeldern. Da ist erstens das pädagogisch wichtige Wirken im Schulzimmer, in der je individuellen Gemeinschaft von Lehrerin und Schülern: Es ist die die Mikroebene „Schulklasse“. In diesem Kreis begleiten Lehrpersonen die Kinder einen kurzen Abschnitt auf ihrem langen Lern- und Lebensweg. Hier wollen sie wirken; hier erkennen sie den Sinn. Darum wählten sie diesen Beruf.

Da ist zweitens das Aktivitätsfeld „Schule“: die „Polis im Kleinen“ als Lebensraum, die Gesamtorganisation Schulhaus, gestaltet und verwaltet von Schulhausverantwortlichen. Und als Drittes ist die Schule ein Subsystem der Gesellschaft und damit auch Seismograph für die divergierenden Probleme einer individualisierten und pluralisierten Gesellschaft. Wirtschaft und Kultur, Politik und Verwaltung, Eltern und Kinder, sie alle stellen immer neue und sich oft widersprechende Forderungen. So steht der innerste Kreis im dauernden Dilemma unterschiedlicher Ansprüche, im Widerstreit zwischen den gesellschaftlichen und sozialen Postulaten einerseits und den individuellen Bedürfnissen der Kinder anderseits.

Guter Unterricht braucht Konstanten

Das Geschehen im Sozialverband Klasse, das Handeln im Binnenraum des Dreiecks „Lehrperson – Unterrichtsinhalt als Kulturgut – Schülerinnen und Schüler“, das ist der Kernbereich der Schule. Hier geschieht das Eigentliche und Wesentliche; hier entsteht die Qualität des Unterrichts. Diese Triade hat aber relativ wenig Konstanten. Sie ist eine fragile und störungsanfällige Konstruktion. Konstanz und Kontinuität geben ihr Halt. Emotional tragende Beziehungen zwischen den Lehrpersonen und ihren Kindern bilden das Fundament für eine hohe Lernqualität.

Wer dieses Dreieck mit Forderungen und Ansprüchen überlastet, bringt Lehrpersonen – und auch viele Schülerinnen und Schüler – an ihre Grenzen und gefährdet die Lernprozesse. Doch genau dies geschieht zurzeit: Der innere Kernkreis übernahm in den letzten Jahren viele neue Aufgaben, vermutlich zu viele. Die Wirtschaft verlangte Frühenglisch, die nationale (Kohäsions-)Politik drängte auf Mittelfrühfranzösisch, der Dachverband Economiesuisse fordert einen möglichst digitalisierten Unterricht. Postuliert wird das individualisierte, autonome Lernen, eigenverantwortet und selbstgesteuert. Dazu kommt die Integration von Kindern mit Lern- oder Verhaltensschwierigkeiten. Das Behindertengleichstellungsgesetz von 2004 führte zum Prinzip der integrativen Schule: Alle Kinder, auch solche mit besonderem Förderbedarf, sollen möglichst gemeinsam unterrichtet werden. Kleinklassen verschwanden, separate Sonderklassen gibt es kaum mehr.

Wenn die Zeit zum Üben fehlt

Manches ist dazugekommen – weggenommen wurde wenig. Darum sind die Lehrpläne dichter und die Lehrmittel dicker geworden. Die Folgen sind spürbar: Druck und Hektik steigen, Verweilen und Vertiefen nehmen ab. Viele Dinge werden nur noch kurz gestreift. Inhalte lösen einander schnell ab. Sie prägen sich nicht tief ein, werden kaum Erfahrung und bleiben Bruchstück. Der Raum zum Vertiefen ist eng. So wird Unfertiges zum Dauerzustand.

Für einen lernwirksamen Unterricht aber sind Üben und Anwenden unabdingbar. Das gilt – so antiquiert es klingt – besonders für die Grundfertigkeiten Rechnen, Lesen und fehlerfreies Schreiben: Je mehr wir etwas im täglichen Leben und unter Druck brauchen, desto intensiver müssen wir es trainieren, sagt die Forschung. Genau dazu fehlt die Zeit.

Notstand in der Schule?

Die beiden Kulturtechniken Mathematik und Deutsch sind grundlegend, eben: Grundkompetenzen. Darum liess die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK diese Fächer in den nationalen Bildungstests von 2016 und 2017 überprüfen. Die Quervergleiche sollen sichtbar machen, wie viele Schülerinnen und Schüler die Grundkompetenzen erreichen. Darauf haben sich die Kantone geeinigt. Gehört hat man bis heute kein Wort. Die EDK schweigt. Auch im 335-seitigen Bildungsbericht Schweiz 2018 (2) steht nichts davon. Die Überprüfung der Grundkompetenzen ÜGK und ihre Resultate scheinen für die Öffentlichkeit tabu.

Dabei wäre eine Publikation dringend notwendig. Sie könnte allenfalls beruhigen. Denn: „Es herrscht Notstand. Die Qualität der Volksschule ist in Gefahr, wenn wir so weitermachen.“ (3) Das sagt Marion Heidelberger; sie ist nicht einfach eine Schwarzmalerin und sie will ihre Aussage gewiss nicht als Kassandraruf verstanden haben. Die erfahrene Primarlehrerin wirkte bis vor Kurzem auch als Vizepräsidentin des Dachverbandes der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer LCH. Sie weiss, wovon sie redet, und sie redet Klartext: „Die Situation hat sich verschlechtert.“

Im innersten Kreis liegt das „Kerngeschäft“

Erkannt ist es schon lange, gesagt wurde es schon oft, wiederholt wird es immer wieder – doch Wirkung zeigt es kaum. Gerade darum müsste die Erziehungsdirektorenkonferenz die ÜGK-Ergebnisse veröffentlichen. Sie führen vielleicht dazu, dass Schulen sich wieder vermehrt auf ihr „eigentliches Kerngeschäft“ besinnen können. Genau das wünscht sich die „Frau mit Klasse“ für ihre Klasse und ihre Schulkinder: hin zum Wesentlichen, weg von der „Konkurrenz mit schulischer Bürokratie“. Und sie ist mit ihrem drängenden Anliegen nicht allein.

Dieser Artikel erschien zuerst am 19. März 2019 auf www.journal21.ch

(1) Alma Pfeifer (2019), Frau mit Klasse, in: Tages-Anzeiger, DAS MAZIN 9/2019, S. 10ff.

(2) Bildungsbericht Schweiz 2018. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung.

(3) Birthe Hofmann, Conny Schmid (2018), Wenn alle mitsollen, wirds schwierig. In: Beobachter 21/2018, S. 50.