Auf den griechischen Philosophen Epiktet (ca. 50-138 n.Chr.) geht das Zitat zurück: „Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern die Vorstellungen und Meinungen von den Dingen.“ Viele Menschen haben eigentlich nicht so sehr Angst vor dem, von dem sie glauben, dass sie Angst davor haben. Vielmehr ängstigen sie sich vor dem, was sie sich darunter vorstellen. Könnte etwas dran sein an diesem Gedanken? Und wenn ja, wie kommt man aus dieser Falle heraus?

Von Ursula Baumgartner

„Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Phantasie!“ meinte der deutsche Schriftsteller Erich Kästner. Zugegeben – man kann in so ziemlich jeder Situation etwas finden, worum man sich Sorgen machen könnte. Und noch eine unliebsame Wahrheit: Jeder hat Angst vor irgendetwas. Vielen Menschen ist dabei vielleicht nicht einmal bewusst, was sie eigentlich ängstigt. Häufig zeigt sich eine versteckte Angst in irrationalen oder überzogenen Reaktionen auf eine an sich harmlose Begebenheit.

„Fürchtet euch nicht!“

„Fürchtet euch nicht!“ ruft uns die Bibel häufig zu – genauer gesagt ganze 365 Mal. Diese Zahl ist sicher kein Zufall und auch in einem Schaltjahr durchaus ausreichend. Und doch ist es leichter gesagt als getan. Denn eine tief sitzende Angst kann man ja nicht einfach abschalten. Wie soll man also damit umgehen?

„Wenn dich eine Sache ängstigt, dann schenke ihr mehr Aufmerksamkeit!“ rät der kanadische Psychotherapeut Jordan Peterson seinen Zuhörern. Dieses Prinzip wird im psychotherapeutischen Bereich als „Expositionstherapie“ bezeichnet. Die Patienten werden – begleitet vom Therapeuten – mit dem konfrontiert, wovor sie Angst haben, z.B. das Einsteigen in einen Aufzug. Der Patient bemerkt so nach und nach, dass die negative Reaktion schwächer wird. Die fehlgeknüpfte Verbindung zwischen einer Situation und der emotionalen (Über-)Reaktion darauf löst sich so allmählich.

Peterson fasst zusammen: „Wenn man Menschen dazu bringt, sich freiwillig dem zuzuwenden, was sie ängstigt, werden sie nicht weniger ängstlich – sie werden mutiger. Sie merken, dass sie mehr können, als sie sich zugetraut hatten.“

Gott als Therapeut

Die 40 Tage der Fastenzeit symbolisieren u.a. die 40 Jahre, die das Volk Israel im Alten Testament in der Wüste verbracht hat. Nach der Verfolgung durch den Pharao leidet das Volk zunächst unter wüstenbedingten Strapazen wie Hunger, Durst und Kälte. Doch dann berichtet das vierte Buch Mose über ein neues Problem: Giftschlangen treten auf, die die Israeliten beissen und viele von ihnen töten. Als Mose daraufhin Gott um Hilfe bittet, beauftragt ihn dieser: „Mach dir eine Schlange und hänge sie an einer Fahnenstange auf! Jeder, der gebissen wird, wird am Leben bleiben, wenn er sie ansieht.“ (4 Mose 21, 8)

Gott entfernt also nicht einfach das, wovor die Israeliten Angst haben. Er verleiht ihnen einen Schutz und gibt ihnen dazu noch eine Technik an die Hand, durch die sie mit der Angst umgehen lernen – eine Technik, die in der Psychotherapie des 21. Jahrhunderts immer noch Anwendung findet.

Das Kreuz als Symbol für alle Ängste

Doch damit nicht genug. Im Johannesevangelium vergleicht sich Jesus sogar selbst mit der Schlange des Mose: „Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn [Jesus] erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, in ihm das ewige Leben hat.“ (Joh 3, 14f.) Für Peterson ist es von zentraler Bedeutung, dass das Abendland mit dem Kreuz ein Symbol in den kulturellen Mittelpunkt gerückt hat, das den Betrachter zwingt, sich mit den fundamentalsten Ängsten auseinanderzusetzen. Die Passion Christi enthält nach Peterson alle Elemente, die Menschen zutiefst ängstigen: Ein nicht nur unschuldiger, sondern ausschliesslich guter Mensch wird von seinen engsten Freunden verraten und verlassen, ein wütender, aufgehetzter Mob fordert nicht nur seinen Tod, sondern auch noch im Austausch die Freilassung eines Verbrechers, ein Unrechtsregime verurteilt ihn zum Tod auf die grausamste Weise.

Wenn Christus nun dieses Symbol, das für all diese Ängste steht, mit der aufgerichteten Schlange in der Wüste vergleicht, bleibt nur folgender Rückschluss: Auch zu diesem Symbol muss man aufschauen, sich diesen Ängsten aussetzen, um sie in den Griff zu bekommen.

Angst ist nicht das Ende

Was können wir nun für die bereits fortgeschrittene Fastenzeit daraus mitnehmen? Vielleicht zum einen, dass die Bibel gar kein altmodisches, verstaubtes Buch ist, sondern sogar modernen Therapeuten etwas zu sagen hat. Zum anderen aber endet die Passionserzählung nicht mit Angst, Leid und Tod, sondern mit der Auferstehung am Ostermorgen. So ist auch das Kreuz nicht nur ein Symbol für die Angst, sondern für das, was jenseits der Angst wartet. Und so hat auch die Angst in unserem Leben nicht das letzte Wort, wenn wir uns mit ihr beschäftigen. Lassen wir noch einmal Jordan Peterson zu Wort kommen: „Wenn Menschen sich freiwillig dem aussetzen, was ihnen Angst macht, ist Angst nicht das Ende der Geschichte. Das Überwinden dieser Angst ist das Ende der Geschichte!“