Der Islam müsse sich wandeln, wenn seine Anhänger in Massen nach Europa kommen wollen, fordert der syrisch-stämmige deutsche Islamwissenschaftler Bassam Tibi. „Die Schweiz darf ihre Werte nicht aufs Spiel setzen“, schreibt der liberale Muslim im Sonntagsblick vom 6. Dezember 2015.

Von Dominik Lusser

Das Rezept des Mannes, der vor über 20 Jahren den Begriff „Euro-Islam“ geprägt hat, lautet: Muslimische Immigranten müssen im Zuge ihrer Integration ihren Glauben anpassen und sich auf eine westliche Leitkultur verpflichten. Tibis Theorie klingt zwar – wie eh und je – wunderschön und verlockend. Mehr als das Bemühen eines inzwischen emeritierten Professors, sein Lebenswerk zu retten, das angesichts der dramatischen Entwicklungen der letzten Jahre immer mehr an Realitätsbezug einbüsst, ist darin aber nicht zu entdecken.

Tibi findet klare Worte zur aktuellen Situation. Es geht „um die Zukunft Europas und sein Schicksal: Bleibt dieser Kontinent demokratisch auf der Basis des säkularen Rechts und der individuellen Freiheit oder wird er ein Scharia-Europa (…)?“ Dabei geht für Tibi Gefahr nicht nur von der„Ideologie des Islamismus“ aus: Jeder schriftgläubige, an der Scharia orientierte orthodoxe Islam steht allen europäischen Wertvorstellungen von Demokratie, Pluralismus und individuellen Menschenrechtendiametral entgegen.Die aktuelle „demographische Lawine“ aus der Welt des Islamuntermauere, so Tibi, die Vehemenz der Problematik. Europa drohe das zu werden, „was heute Syrien, Irak oder Libyen seien:Länder mit einem zerrütteten Gemeinwesen und Gewalt als einziger Leitkultur.

„Euro-Islam“ ferner denn je

Angesichts dieser dramatischen Perspektive wirken Tibis Lösungsvorschläge geradezu naiv. Europa müsse sich dringend die Frage stellen, „auf welchen Islam Europa seine Immigranten verpflichten soll.“ Die Schweiz dürfe und müsse von ihren Zuwanderern verlangen einen Islam zu leben, der mit den hiesigen Werten wie Trennung von Religion und Politik, Gleichheit von Mann und Frau, usw. in Einklang stehe. Tibi hat die Entwicklung seines „Integrationskonzepts der Leitkultur“ vor 20 Jahren begonnen. Dass er es auch jetzt noch als Musterlösung anpreist, nachdem sich vielerorts in Europas islamische Parallelgesellschaften gebildet haben und hinlänglich bekannt ist, dass die zweite und dritte Generation muslimischer Einwanderer ihren Glauben orthodoxer praktiziert als ihre Elterngeneration, ist völlig unglaubwürdig. Vielleicht steckt dahinter auch ein Stück Professorenstolz. Denn die Einsicht, dass ein über Jahrzehnte mühsam entwickeltes Konzept aufgrund einer rasant beschleunigten Entwicklung plötzlich keinerlei Gültigkeit mehr haben kann, ist nicht leicht zu verdauen.

Doch die Realität überholt den mittlerweile 71-jährigen Tibi unerbittlich: Das tief in der Orientierungskrise steckende Europa ist schon seit Jahrzehnten ausser Stande eine eigene Leitkultur zu formulieren. Europäische Werte werden, wie auch Tibi konstatiert, durch „von Wertebeliebigkeit befallene Gesinnungsethiker und Multi-Kulti-Ideologen“ in Frage gestellt. Dass sich die Europäer also gerade jetzt doch noch auf eine gemeinsame Leitkultur sollten einigen können, auf die man dann auch alle Immigranten verpflichtet, ist nichts als ein naiver Wunsch. Zudem kommen die Einwanderer derzeit in so grosser Zahl bei uns an, dass von geordneter Integration sowieso keine Rede mehr sein kann.

Doch das alles ist noch nicht des Pudels Kern. Tibis Konstruktion „Euro-Islam“ ist nicht erst durch die rasante Entwicklung der Gegenwart obsolet geworden. Sie krankte von Beginn weg an einer unter Säkularisten (und offenbar auch bei liberalen muslimischen Intellektuellen) weit verbreiteten Fehleinschätzung des Faktors Religion: Sowohl der islamistische Selbstmordattentäter wie auch der syrisch-christliche Märtyrer, der sich lieber den Kopf abschlagen lässt, als seinen Glauben zu verleugnen, sprengen die Kategorien eines rein weltlichen Denkens. Wer ganz unvoreingenommen zur Kenntnis nimmt, wie ernst religiöse Menschen das nehmen, woran sie glauben, der kann nicht davon ausgehen, dass Integrationsbemühungen einen orthodoxen Muslim davon abbringen werden, sein Gefühl der Überlegenheit gegenüber Nichtmuslimen einfach abzustreifen. Die Anstrengung orthodoxe Muslime von Missionaren des Islam zu guten europäischen Bürgern zu machen, wird bei vielen einfach daran scheitern müssen, das sie das nicht wollen. Tibis alte Leier, wonach die Attentäter des „9/11“ nur mangels Integrationsdruck eine anti-westliche Einstellung ausgebildet hätten, nimmt den Menschen in seiner Freiheit einfach nicht ernst.

Muslime sollen sich selber aufklären

Viele fordern eine Reform des Islam. Diese aber ist primär Sache der Muslime, nicht die unsrige. Darum ist es auch nicht sinnvoll Europa zum zentralen Schauplatz dieser Reformen zu machen, deren Erfolg höchst ungewiss ist. Denn auch die Aufklärungsschübe in der europäischen Geschichte gingen nicht von Fremden aus, sondern aus dem Kern einer über Jahrhunderte gereiften abendländischen Identität hervor. Das Christentum spielte dabei, obwohl dies oft anders dargestellt wird, eine zentrale Rolle. Während aber die Christen die Trennung von Politik und Religion sowie die Gleichwertigkeit von Mann und Frau von den Quellen ihres Glaubens her bejahen können, enthalten Koran und Sunna, die Quellen des Islam, kaum Impulse für eine Säkularisierung islamischer Gesellschaften.

Zweifellos gibt es, wie Tibi sagt, „keinen Eintopf-Islam“: Die Bandbreite zwischen Abu Bakr al-Baghdadi,dem Kalifen des IS, und Bassam Tibi könnte grösser nicht sein. Ebenso wenig aber werden sich alle Muslime von den Europäern auf eine Demokratie-kompatible Form des Islam verpflichten lassen. Europas Zukunft und Schicksal darf darum nicht vom guten Willen derjenigen abhängig gemacht werden, die jetzt in Massen hereinströmen. Es wäre – auch unter Laborbedingungen nach Vorgaben von Professor Tibi – ein gewaltiges und halsbrecherisches Integrationsexperiment, auf das wir uns niemals einlassen dürfen. Darauf zu hoffen, dass alle Muslime, gesättigt von den Fleischtöpfen Europas ihre Orthodoxie an den Nagel hängen, ist verwegen. Das Rezept, das als einziges vielleicht noch funktionieren könnte, sind möglichst dichte Grenzen gegen islamische Zuwanderung.