Präsident Tayyip Erdogans immer wilderes Umsichschlagen hat in Ankara unlängst zu einer parlamentarischen Anfrage nach seinem Geisteszustand geführt, aber auch nach dem seiner kopftuchtragenden Gattin Emine. Während die türkische First Lady den Harem lobt, tobt ihr Mann gegen die Kurden, den Rest von Pressefreiheit am Bosporus und die islamische „Erleuchtungsbewegung“ seines einstigen Lehrmeisters Fethullah Gülen. Tatsächlich weiss der immer unumschränktere Machthaber aber ganz genau, was er damit will: Eine Re-Islamisierung der Türkei und ihre Führungsrolle über alle Muslime.
Die Türkei gerät dabei zunehmend in den Griff immer radikalerer Panislamisten. Erdogans Chefideologe tritt nach jahrelangem Wirken und Wühlen hinter den Kulissen jetzt als offizieller Sprecher des Staatschefs hervor: Der Panislamist Ibrahim Kalin, kein unbeschriebenes Blatt unter den Nostalgikern einer Muslim-Weltherrschaft. Ibrahim Kalin ist von Haus aus Theologe und hat sich auf schiitische Religionsphilosophie spezialisiert. Damit trat er aus dem Rahmen der von Erdogan zunächst angestrebten Wiederbelebung des Osmanentums in die Richtung einer allislamischen Mobilisierung. Kalin gehörte dann 2007 zu den Initiatoren und Unterzeichnern des offenen Briefes „Ein gemeinsames Wort zwischen Uns und Euch an die Führer christlicher Kirchen überall“. Dieses Machwerk beschönigte den Islam als tolerantestes, auch Christen und Juden integrierendes – in Wahrheit diskriminierendes – Glaubenssystem.

In Erdogans erster Regierungsphase von 2003 bis 2009 schien er sich die ausgesprochen frauen- und christenfreundlichen Reformsultane zwischen 1830 und 1876 zum Vorbild zu nehmen und wurde daher im In- und Ausland durchaus positiv eingeschätzt. Dann trat er jedoch in die Spuren des „roten“ Sultans Abdülhamid II. (1876–1909), der die Wiederverschleierung ermutigte, die Kirchen unterdrückte und mit dem Ausrotten der armenischen Christen begann. Eines der vielen Beispiele für Erdogans Wandel sind die 1971 geschlossenen Theologischen Hochschulen der Presbyterianer, Armenier und Griechisch-Orthodoxen in Istanbul. Der damalige Regierungschef versprach, sie und vor allem das griechische Chalki wieder zu öffnen. War es doch 1844 von keinem Geringeren als Sultan Abdülaziz I. persönlich gegründet worden. Dann änderte Erdogan jedoch seine Meinung und beliess die Bildungsstätten für geistlichen Nachwuchs der türkischen Christen zweckentfremdet als Teil staatlicher Universitäten oder im Fall von Chalki hinter Schloss und Riegel.

Heute wissen wir, dass diese Verfinsterung des anfangs „sonnigen“ Erdogan weitgehend das Werk seines Einbläsers Kalin war. Er machte ihn Anfang 2009 in aller Stille zu seinem aussenpolitischen Berater Nr. 1. Erste Auswirkungen waren gleich am 29. Januar 2009 der antiisraelische Eklat des damaligen türkischen Ministerpräsidenten beim Forum von Davos und die folgende Umwerbung der Palästinenser, besonders der Hamas-Islamisten von Gasa. Dann gab gab Kalin 2011 Erdogan den Rat, beim „Arabischen Frühling“ auf die Karte der Muslim-Brüder zu setzen und mit ihrer Hilfe ganz Nahost wieder wie bis zum Ersten Weltkrieg unter türkischen Einfluss zu bringen. Eine Rechnung, die in Ägypten kurzzeitig und in Syrien nur beinahe aufging. Was aber den Diktator von Ankara und seinen Vordenker nicht entmutigt, weiter die Türkei und ihre Diaspora in Europa am „islamischen Wesen genesen zu lassen“.

Von Heinz Gstrein