Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdo?an beschuldigt Deutschland und den deutschen Bundespräsidenten Gauck zu Unrecht, die Türkei angegriffen zu haben, denn Gauck sagte über die Türkei gar nichts. Erdo?an aber nimmt sich das Recht, Deutschland (und jedes andere Land) seit Jahren und jetzt erneut heftig zu kritisieren, nach dem Motto: Was ich darf, dürfen andere Präsidenten noch lange nicht.
Doch der Reihe nach: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdo?an hat sich nach der Rede des Bundespräsidenten und der Debatte des Deutschen Bundestages zum 100-jährigen Gedenken an den Beginn des Genozids an den Armeniern und Syro-Aramäern in Istanbul auf einer Veranstaltung des türkischen Unternehmer-Vereins MÜSIAD zur Reaktion Deutschlands zum Völkermord an den Armeniern geäussert. Darin sagt er: „Während wir Friedensbotschaften in die Welt entsenden, gibt es einige Länder wie Russland, Deutschland und Frankreich, die die armenischen Unwahrheiten unterstützen und uns kritisieren. Was vor 100 Jahren passiert ist, ist eine gegenseitige schmerzvolle Erfahrung. Diejenigen, die die Vorwürfe gegen uns unterstützen, sollten zuerst ihre eigene Vergangenheit bereinigen. Diejenigen, die uns aufgrund der Zwangsumsiedlung der Armenier verurteilen, sollten zuerst die Rechnung für ihre eigenen Ungerechtigkeiten bezahlen. Sie sollten die Blutspur, die sie über Jahrhunderte gelegt haben säubern. In diesem Zusammenhang ist Deutschland das letzte Land, welches sich eine Meinung erlauben darf. Russland und Frankreich sollten ein Auge auf ihre eigene Geschichte werfen. Ihr zieht aus Frankreich los und dringt in Algerien und Ruanda ein. Was zur Hölle habt ihr Franzosen in Afrika verloren?“ Erdo?an meint etwas später noch, dass die Europäer es nicht schaffen werden, die Türkei in ihren wirtschaftlichen und politischen Zielen für das Jahr 2023 zu behindern.

Schon Beginn und Ende sind merkwürdig. Erdo?an sendet „Friedensbotschaften“? Welche sollten das sein? Und wer will die Türkei „behindern“? Und was hat die Frage des Völkermordes mit der wirtschaftlichen Entwicklung der Türkei zu tun? Doch nun zum Kern, dem Vorwurf, Deutschland habe wegen seiner Vergangenheit kein Recht, die Türkei zu verurteilen, ja es sei „das letzte Land“, das überhaupt „eine Meinung“ über andere haben dürfe.

Gauck hat der Türkei keine Vorwürfe gemacht.

Bundespräsident Joachim Gauck hat kein einziges Mal der Türkei oder der türkischen Regierung Vorwürfe gemacht. An der zentralen Stelle seiner Rede, in der er das Wort „Völkermord“ verwendet, spricht Gauck nicht von der Türkei, sondern von Deutschland! Er sagt: „In diesem Fall müssen auch wir Deutsche insgesamt uns noch der Aufarbeitung stellen, wenn es nämlich um eine Mitverantwortung, unter Umständen sogar Mitschuld, am Völkermord an den Armeniern geht.“ Hier ist das Problem: Damit Erdo?an nicht verärgert ist, dürften wir nicht nur nicht in Bezug auf die Türkei von Völkermord zu sprechen, sondern auch nicht in Bezug auf uns selbst. Gauck hat zur Begründung den deutschen Reichskanzler zitiert, keinen türkischen Politiker: „Reichskanzler Bethmann Hollweg, der von einem Sonderbeauftragten recht detailliert über die Verfolgung der Armenier informiert worden war, bemerkte im Dezember 1915 lapidar: ‚Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht‘.“ Gauck spricht zwar über „Die jungtürkische Ideologie …“, er sagt: „Im Osmanischen Reich entwickelte sich daraus eine genozidale Dynamik, der das armenische Volk zum Opfer fiel.“ Zweimal erwähnt Gauck die heute lebenden „Türken“, beide Male nicht kritisch, sondern mit dem Wunsch der Versöhnung zwischen Türken und Armeniern: „Besonders freue ich mich über jedes ermutigende Zeichen der Verständigung und des Aufeinanderzugehens zwischen Türken und Armeniern.“; „Unter uns leben Nachfahren von Armeniern und Türken mit ihrer je eigenen Geschichte. Für ein friedliches Miteinander …“

Deutschland schämt sich, die Türkei nicht

Wer wie ich bei der Rede Gaucks, der Bundestagsdebatte, dem Lichtermarsch und weiteren Veranstaltungen dabei war, weiss, dass die Scham über die Rolle des Deutschen Reiches im Zentrum stand und es ein ganz offensichtliches Bemühen gab, die heutige Türkei nicht anzugreifen. In keinem Land der Erde wurde die Türkei in den Gedenkveranstaltungen so geschont wie in Deutschland.

Allerdings muss man daraus auch die Lehre ziehen: Es genügt nicht, wie Präsident Obama die Vokabel ‚Völkermord‘ zu vermeiden, man muss schon die Türkei direkt von jeder Mitschuld freisprechen. Es ist eine auffällige Zurückhaltung festzustellen, der heutigen Türkei Vorwürfe zu machen. Die Türkei fühlt sich angegriffen, wenn man sie gar nicht erwähnt (Gauck) oder wenn man den Begriff ‚Völkermord‘ meidet (Steinmeier, Obama). Und es ist die Türkei, die jede Kritik an der türkischen Regierung vor Gründung der modernen Republik Türkei als persönliche Kritik an der heutigen Regierung versteht, während Gauck und andere immer wieder betont haben, dass die heute lebenden Türken und die heutige Türkei keine persönliche Schuld trifft, sondern es nur darum gehen kann, wie man mit der Vergangenheit umgeht. Hier hat Erdo?an ein Riesen-Vergrösserungsglas für andere und eine geschwärzte Brille für sich zur Hand.

(Quelle: BQ 356 – Nr. 20/2015)

Kommentar von Thomas Schirrmacher