Wie kommen Philosophen auf die abstruse Idee, das Leben von Kühen und Kindern wäre prinzipiell gleich schützenswert?

Ein Kommentar von Dominik Lusser

Dr. Angela Martin forscht mit einem Team an der Uni Basel zu der Frage, was zu tun ist, „wenn die grundlegenden Interessen von Menschen und Tieren in Konflikt stehen“. Gefragt, ob ein Bauer im Brandfall zuerst seine Kinder oder seine Kühe retten solle, antwortete die Philosophin kürzlich im NZZ-Interview: „Das ist ein ethisches Dilemma. Idealerweise rettet er alle.“

Von solchen Gedanken ist es nicht mehr weit zur Ideologie radikaler Tierrechtsaktivsten, die Ungleichbehandlungen von Lebewesen aufgrund ihrer Artzugehörigkeit grundsätzlich überwinden wollen. Beim sogenannten Antispeziesismus handelt es sich – nach der gescheiterten Errichtung der klassenlosen Gesellschaft und dem noch andauernden Krieg gegen die Geschlechtsunterschiede (Gender Mainstreaming) – um ein weiteres Anwendungsfeld marxistisch inspirierter Theorie: Vom Klassenkampf über den Geschlechterkampf sind wir jetzt also beim Kampf zur Befreiung der Tierarten angelangt.

Postmodern formuliert heisst es aus diesen Kreisen, die Trennlinie zwischen Mensch und Tier sei eine durch Machtverhältnisse bestimmte sprachliche bzw. soziale Konstruktion. Es gelte, den christlich-abendländischen Anthropozentrum zu überwinden, gemäss dem allein der Mensch um seiner selbst willen erschaffen worden sei. An der Uni Basel redet man im Gefolge Joan Dunayers und Jacques Derridas vom Menschen als dem „nicht menschlichen Tier“, um die Dichotomie Mensch-Tier zu dekonstruieren.

Mit ihren befremdlichen Überlegungen ist Angela Martin in Basel in guter Gesellschaft. Ihr Mitassistent Nico Müller am Lehrstuhl für theoretische Philosophie ist Vorstandspräsident des Vereins „Animal Rights Switzerland“, der für Tiere Grundrechte wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit einfordert. Und Lehrstuhlinhaber Markus Wild meinte 2016 im „Tagesanzeiger“-Interview: „Es gibt kein Kriterium, das alle Menschen gegenüber Tieren auszeichnet. (…) Wenn Kleinkinder und Menschen mit schweren Behinderungen Grundrechte haben, dann sollten sie auch für gewisse Tiere gelten.“

Nicht alle Philosophen teilen solche Ansichten. Der Schweizer Dominik Perler, der an der Humboldt-Universität in Berlin lehrt, sieht den Unterschied zwischen Mensch und Tier in der Sprache gegeben. In einem „Welt“-Interview antwortete er auf die Frage, ob Babys sprachuntaugliche Primaten seien: „Keineswegs, sie entwickeln sich ja.“ Menschenbabys seien im Vergleich zu Tierbabys im Rückstand. Sie könnten nicht laufen, sich nicht selbst ernähren, seien auf Hilfe angewiesen. Jedes Fohlen könne da mehr. „Aber das Potenzial zur Sprache macht ein Menschenbaby einzigartig.“ Wale könnten sich zwar über grosse Distanzen mit Gesängen verständigen, doch fehle ihnen zur Sprachfähigkeit die „Systematizität und Produktivität: die Fähigkeit, aus einem Repertoire von Signalen etwas neu zusammenzusetzen.“ Demgegenüber würden schon Kleinkinder, die nur wenige Wörter beherrschten, immer neue Sätze daraus bilden.

Ohne Sprache kann sich ein Lebewesen zwar auf Gegenstände beziehen und sein Verhalten danach ausrichten; Schimpansen beispielsweise setzen Werkzeuge ein und durchschauen die Absichten ihrer Artgenossen – doch Denker sind sie deswegen noch nicht. Die Sprache ist laut Perler Ausdruck der Fähigkeit, Gedanken zu bilden und sie auf logisch-konsistente Weise miteinander zu verknüpfen. Wer Sprache besitze, könne ferner auch über Abwesendes, noch nicht Existierendes reden, ergänzt Perler. „Wir sind nicht mehr gebunden an Reize von aussen. Das erweitert den Horizont enorm.“ Erst das versetze uns in die Lage, Pläne zu schmieden und Ziele zu setzen, was Tiere nicht täten.

Nicht zuletzt setzen auch Freiheit und Liebe (die keine blosse Emotion, sondern eine überlegte freie Entscheidung ist) Denken voraus. Perler nennt nämlich zwei Bedingungen für Freiheit: „die Möglichkeit, zwischen Optionen zu wählen, und die Fähigkeit, Gründe für das eigene Handeln zu liefern.“ Bei der Wahl-Möglichkeit von Tieren ist der Philosoph skeptisch. Bezüglich der Fähigkeit, Gründe zu liefern, steht für ihn fest, dass Tiere dies nicht könnten. „Ohne Sprache keine Gedanken, ohne Gedanken keine Gründe und ohne Gründe keine Freiheit.“

Perler betont gleichwohl, dass die empirische Verhaltensforschung immer dafür offenbleiben muss, irgendwann ein Tier zu entdecken, das eine Fähigkeit besitzt, die man bislang nur dem Menschen zuschrieb. So verlangt es die wissenschaftliche Methode. Wie realistisch es allerdings ist, irgendwann philosophierende Schweine, komponierende Schimpansen, autofahrende Giraffen oder politisierende Krokodile zu entdecken, ist eine andere Frage. Beim jetzigen Wissenstand ist es meines Erachtens jedenfalls absurd, im erwähnten Fall von einem ethischen Dilemma zu reden.

Wem tierisches Leid gleichgültig ist, ist ein verrohter Mensch. Wer aber eine Zwickmühle sieht, wo entweder Kinder oder Kühe aus einem brennenden Stall zu retten sind, scheint meines Erachtens vergessen zu haben, was eigentlich der Mensch ist.

Um jeden Zweifel auszuräumen, ob ich Frau Dr. Martin auch wirklich richtig verstehe, habe ich ihr schriftlich ein paar Fragen zu ihrem NZZ-Interview vorgelegt. Leider, ohne eine Antwort zu erhalten.

Die Tierethikerin forscht aber weiter. Seit September 2019 bezieht sie dafür sogenannte PRIMA-Beiträge des Schweizerischen Nationalfonds SNF. Dies entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Die durch Steuergelder finanzierten PRIMA-Projekte stehen nur forschenden Frauen offen, die Aussicht auf eine Professur haben. Martin, die zielstrebig an der moralischen Gleichstellung von Mensch und Tier arbeitet, zeigt offenbar keine Hemmungen, Karriereförderungsmassnahmen in Anspruch zu nehmen, die Männer diskriminieren. Speziesismus nein, Sexismus ja!? Auch das ist kein Dilemma, sondern ein Widerspruch.