„Weil ich es will“ – Dieses Buch fordert den Leser heraus. 39 Männer und Frauen kommen darin zu Wort: Sie möchten ihren homoerotischen Empfindungen nicht das letzte Wort über ihren Lebensstil geben. Ein Buch, das dem Leser einen anderen Blick auf die Homosexualität eröffnet.

Von Ralph Studer

Bereits das Vorwort des Herausgebers und Entwicklungspsychologen Dr. Markus Hoffmann zeigt eines deutlich: Menschen erleben und deuten (Homo-)Sexualität anders. Hoffmann ist Leiter des Instituts für dialogische und identitätsstiftende Seelsorge und Beratung IdiSB e.V. in Deutschland und hat Jahre lange Erfahrung mit Menschen, die an ihren homoerotischen Empfindungen leiden. Leiden, weil viele erkannt haben, dass hinter diesen Gefühlen mehr steckt als nur sexuelle Anziehung.

Widerspruch zum gängigen Bild

In diesem Buch kommen Menschen zu Wort, die nicht in die gängigen Schablonen von „homosexuell“ und „heterosexuell“ passen. Die Zeugnisse zeigen, wie verschieden die 39 Personen ihre homoerotischen Neigungen empfinden: Marcel oder David empfinden ausschliesslich homosexuell. Samuel, der mit 18 Jahren noch homosexuell empfand, hat sich in eine Frau verliebt und ist heute verheiratet. Carla wurde sexuell missbraucht. Sie lebte in einer lesbischen Beziehung, fühlte sich dabei jedoch nicht wohl. Sie konnte sich schwer abgrenzen und das Äussern ihrer Bedürfnisse fiel ihr schwer. Erst als sie an ihrer Fähigkeit zur Abgrenzung arbeitete, merkte sie, dass sie eigentlich nicht sexuelle Nähe zu Frauen sucht.

Auch die Lebenssituationen der Menschen in diesem Buch passen nicht zum Typus des „homosexuellen Menschen“, wie ihn die Medien vermitteln. Einige leben bewusst ledig und verzichten auf Sexualität. Sie begründen dies entweder mit ihrem christlichen Glauben oder einem inneren Konflikt, der ihnen eine Partnerschaft auf Augenhöhe nicht ermöglicht. Andere erlebten eine Veränderung ihrer homosexuellen Gefühle in Richtung Heterosexualität und sind heute verheiratet. Wiederum andere nehmen gegenwärtig heterosexuelle und homosexuelle Impulse in ihrem Leben wahr. Auch wenn sich die Lebensgeschichten unterscheiden, ist den Autoren und Autorinnen eines gemeinsam. „Hier schreiben Personen“, so Hoffmann, „die gelernt haben, ihre homosexuellen Impulse, ob vergangen oder fortbestehend, als Aspekt ihres Lebens anzunehmen, ohne daraus einen Lebensstil oder eine homosexuelle oder queere Identität abzuleiten.“

Offen und transparent

Beeindruckend beim Lesen ist die Offenheit und Transparenz der Autoren und Autorinnen, die sich nicht scheuen, über ihre Gefühle wie Angst, Scham und Verzweiflung, ihre inneren Konflikte und Verletzungen, aber auch über Versöhnung mit sich und anderen, ihre Umkehr und ihren Neuanfang zu reden. Sie sprechen über ihre Suche nach Identität und nach einem Umgang mit ihrer sexuellen Orientierung, sie schreiben über die Bedeutung ihres Glaubens für ihren Weg und ihren Umgang mit sich und ihren Beziehungen, wenn sie sowohl homosexuelle als auch heterosexuelle Impulse in sich spüren. Andere Zeugnisse erzählen von der Gestaltung des Ledigseins und der Enthaltsamkeit, der Elternschaft, der Ehe mit einem gegengeschlechtlichen Partner oder vom Umgang mit der schmerzhaften Erfahrung von Trauma und sexuellem Missbrauch. Wiederum andere von Veränderung, die jedoch sehr unterschiedlich erlebt und beschrieben wird.

In diesen 39 Lebensberichten tritt dem Leser das Menschsein in seinen vielen Facetten entgegen. Diese Berichte nehmen jeden, der sich darauf einlässt, mit auf eine innere Lebensreise, die berührt und – was vielleicht überraschend erscheint – zum Nachdenken über sein eigenes Leben anregt, unabhängig von der eigenen sexuellen Orientierung und Lebenssituation.

Protest und Einladung zum differenzierten Dialog

Dem Buch gelingt es, dem Leser einen vertieften Einblick in die persönlichen Prozesse von Menschen zu geben, die mit ihrer sexuellen Identität ringen und Antworten auf ihre jeweiligen Fragen suchen bzw. bereits gefunden haben. Hier kommen Menschen zu Wort, deren Zeugnisse weder medial noch gesellschaftlich thematisiert werden. Vielmehr liegt bis anhin ein Mantel des Schweigens über Lebensberichten wie den vorliegenden.

Gerade hier setzt das Buch neue und notwendige Akzente. Die Autoren und Autorinnen durchbrechen mit ihren Berichten das Schweigen. „Weil ich es will“ öffnet die Türe und ermutigt auch andere Menschen, die sich nicht einfach in die Schubladen von „schwul“, „lesbisch“ oder „bisexuell“ einordnen lassen wollen, Fragen zu stellen. Das Buch ist auch ein Protest gegen eine Gesellschaft, die mehr und mehr (selbst)kritische Analysen zur sexuellen Orientierung unterdrückt und Hilfsangebote für Suchende und ihre homoerotischen Empfindungen Hinterfragende verunmöglichen will.

Durch die Fülle der verschiedenen Perspektiven und Erfahrungen schafft es das Buch, die Grundlage für einen differenzierten Dialog in unserer Gesellschaft zu legen. Das Thema Homosexualität ist vielschichtig und nicht eindimensional. Es gibt nicht nur Menschen, die in ihrer sexuellen Orientierung akzeptiert werden wollen, sondern auch Menschen, die mit ihren Fragen, Nöten und Lebenssituationen vom bekannten Mainstream abweichen.

Es gibt nicht „den“ homosexuellen Menschen

Deutlich zu Tage tritt in diesem Buch, dass es nicht „die“ Homosexualität und „den“ homosexuellen Menschen gibt. Besonders interessant ist die Tatsache, dass ähnliche (negative) Erfahrungen den einzelnen Menschen unterschiedlich prägen und sich in seinem Leben unterschiedlich auswirken. Das Buch veranschaulicht, dass die gängige mediale Sichtweise, die sexuelle Orientierung nur auf eine Frage von Lust und Liebe zu reduzieren, viel zu kurz greift. Sexualität ist mehr als nur der einzelne Akt. Personen wie Samuel (41), die sowohl homosexuell als auch heterosexuelle Impulse verspüren, stehen beispielsweise vor der Lebensentscheidung, welche Beziehung sie eingehen oder wie sie ihre Ehe gestalten.

Aber auch andere Entscheidungen können notwendig werden. Charlotte (36) erkannte, dass sie keine Beziehung zu einem Mann eingehen konnte, weil sie sich von Männern bedroht und benutzt fühlt. Oder Hanna (67), deren Leere auch durch gleichgeschlechtliche Beziehung nicht gestillt werden konnte. Sowohl Charlotte und Hanna begannen aufgrund ihrer Wahrnehmung ihre eigene Sexualität zu hinterfragen. Dabei sind sie auf quälende Konflikte gestossen, deren Aufarbeitung eine bewusste Entscheidung verlangte. Dieses „auf dem Weg sein“ der Autoren und Autorinnen ist schmerzhaft. Doch sie haben sich ausdrücklich dafür entschieden, sich ihren Konflikten zu stellen und so immer mehr die Wahrheit über sich selbst zu erfahren.

Mutig und ernst genommen

Die 39 Personen stehen mit ihrem Ringen um Identität und sexuelle Orientierung buchstäblich „quer zu queer“. Es ist ihre Geschichte, ihr Weg. Es ist das, was sie leben wollen. Diese Lebensberichte sind ein mutiges Zeugnis von Menschen, die bewusst einen anderen Weg gehen und sich von der LGBTIQ-Bewegung abheben. „Wir wollen als Menschen“, so Hoffmann, „die ihre Sexualität und ihr Personsein anders verstehen, ernst genommen und in Gesellschaft und Kirche nicht an den Rand gedrängt, ausgegrenzt und übersehen werden. Denn wir haben ein berechtigtes Anliegen, einfach schon deshalb, weil wir in Lebenssituationen stehen, in denen wir nach Antworten suchen und uns vor allem auch von der christlichen Gemeinde Orientierung und Wegbegleitung wünschen.“

Gerade in einer Zeit, in welcher der Druck auf Menschen, die ihre Sexualität als konfliktbehaftet erleben und anders als das gängige LGBTIQ-Narrativ leben wollen, wächst, ist dieses Buch eine unentbehrliche und substanzielle Bereicherung. Es öffnet den Horizont des Lesers für Stimmen, Perspektiven und Geschichten, die im Mainstream sonst untergehen.

Markus Hoffmann (Hrsg.), „Weil ich es will. Homosexualität – Wandlungen – Identität, 39 Lebensberichte“, 2023, Fontis Verlag, im Buchhandel erhältlich