Ist der Mensch nur eine von vielen Tierarten? Auch diesen zuliebe sollten wir es unterlassen, den Menschen einfach zu ihrem Fressfeind zu degradieren.

Von Dominik Lusser

Auf die Frage, ob ein Bauer im Brandfall zuerst seine Kinder oder seine Kühe aus dem brennenden Stall retten solle, antwortete die Tierethikerin Angela Martin kürzlich im NZZ-Interview: „Das ist ein ethisches Dilemma. Idealerweise rettet er alle.“ Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für theoretische Philosophie an der Universität Basel forscht mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zu der Frage, was zu tun ist, „wenn die grundlegenden Interessen von Menschen und Tieren in Konflikt stehen“.

Mit ihrer befremdlichen These ist Angela Martin am philosophischen Seminar der Uni Basel in guter Gesellschaft. Nico Müller, Assistent am gleichen Lehrstuhl, ist Vorstandspräsident des Vereins „Animal Rights Switzerland“, der für Tiere ein Recht auf körperliche Unversehrtheit einfordert. Und Lehrstuhlinhaber Markus Wild vertritt die Ansicht, dass es kein Kriterium gäbe, „das alle Menschen gegenüber Tieren auszeichnet.“ Wenn Kleinkinder und Menschen mit schweren Behinderungen Grundrechte hätten, dann sollten sie auch für gewisse Tiere gelten.

Nicht alle Philosophen teilen diesen Reduktionismus. Der Schweizer Dominik Perler, der an der Humboldt-Universität in Berlin lehrt, sieht den Unterschied zwischen Mensch und Tier in der Sprache gegeben. Im „Welt“-Interview antwortete er auf die Frage, ob Babys sprachuntaugliche Primaten seien: „Keineswegs, sie entwickeln sich ja.“ Menschenbabys seien im Vergleich zu Tierbabys im Rückstand. Sie könnten nicht laufen, sich nicht selbst ernähren, seien auf Hilfe angewiesen. „Aber das Potenzial zur Sprache macht ein Menschenbaby einzigartig.“ Wale könnten sich zwar über grosse Distanzen verständigen, doch fehle ihnen zur Sprachfähigkeit die „Systematizität und Produktivität: die Fähigkeit, aus einem Repertoire von Signalen etwas neu zusammenzusetzen.“ Demgegenüber würden schon Kleinkinder, die nur wenige Wörter beherrschten, immer neue Sätze daraus bilden.

Die Sprache ist laut Perler Ausdruck der Fähigkeit, Gedanken zu formen und sie auf logisch-konsistente Weise miteinander zu verknüpfen. Wer Sprache besitze, könne ferner über Abwesendes und Zukünftiges reden, ergänzt Perler. „Wir sind nicht mehr gebunden an Reize von aussen. Das erweitert den Horizont enorm.“ Erst das versetze uns in die Lage, Pläne zu schmieden und Ziele zu setzen, was Tiere nicht täten.

Perler betont gleichwohl, dass die empirische Verhaltensforschung immer dafür offenbleiben muss, irgendwann ein Tier zu entdecken, das eine Fähigkeit besitzt, die man bislang nur dem Menschen zuschrieb. So verlangt es die wissenschaftliche Methode. So lange allerdings nichts über tierische Proteste gegen das Artensterben oder Gewerkschaften im Bienenstock bekannt wird, ist meines Erachtens grosse Skepsis geboten gegenüber Martins „animalistischer“ Dilemma-These.

Das Tier als empfindungslose Maschine

Dies will nicht heissen, dass unser Umgang mit Tieren vorbildlich wäre. Im Gefolge René Descartes, der Tiere zu empfindungslosen Maschinen erklärte, hat die Moderne in Tieren vielfach nur Bündel nützlicher Eigenschaften gesehen. Die philosophische Tradition kennt allerdings auch noch andere geistige Ressourcen, die neu zu bedenken es sich lohnen könnte. Von Augustinus bis Kant war der Gedanke vertraut, dass der Mensch, der Tiere quält, gegen seine eigene Würde verstösst. Von da ausgehend wäre neu zu fragen, ob es  dem Tierschutz letztlich nicht mehr brächte, wenn der Mensch sich neu seiner hervorragenden Würde bewusst würde, anstatt sich selbst zum Tier und damit zum Fressfeind anderer Arten zu degradieren.

Wenn „Menschenwürde“ etwas meint, was den Menschen objektiv auszeichnet, dann kann sie, wie Robert Spaemann einmal formuliert hat, „nur die Fähigkeit des Menschen meinen, Ehrfurcht zu haben vor dem, was über ihm, was neben ihm und was unter ihm ist (…).“ Menschenwürde meine mit anderen Worten die „Fähigkeit, sich sozusagen selbst von aussen zu sehen, den eigenen Standpunkt zugunsten eines übersubjektiven zu relativieren“. Diese Würde in der Vernunftnatur zu sehen, ist laut Spaemann dann richtig, „wenn Vernunft nicht nur instrumentelle Intelligenz meint, sondern das Vermögen, das, was ist, als es selbst und nicht nur als Bestandteil der eigenen Umwelt aufzufassen.“ Der Mensch gebe den Dingen und Lebewesen Namen, während die Katze die Maus nicht „Maus“ nenne, sondern fresse. Laut Spaemann verstehen zwar auch wir nicht wirklich, wie einer Katze zumute ist, aber „wir sehen, dass sie nicht nur ein Gegenstand ist, den wir sehen, sondern dass wir auch umgekehrt von ihr gesehen werden und dass hinter diesem Blick ein für immer verborgenes Geheimnis liegt, das sich in diesem Blick nur ankündigt.“

Spaemann zufolge kann darum Schmerzzufügung beziehungsweise artwidrige Tierhaltung durch keinen anderen Nutzen des Menschen als dem der Vermeidung vergleichbarer Schmerzen oder der Lebensrettung gerechtfertigt werden. Wirtschaftliche Vor- und Nachteile dürften hier gar keine Rolle spielen und wissenschaftliche Forschungsinteressen nur insoweit, als sie unmittelbar auf Lebensrettung oder auf Vermeidung vergleichbarer Schmerzen gerichtet seien. Auch Fleischkonsum wäre demnach, wie wir daraus ableiten können, an die Bedingung geknüpft, dass Tiere artgerecht gehalten und auf eine angst- und schmerzfreie Weise getötet werden.

Die Frage des richtigen Umgangs mit Tieren bleibt eine schwierige. Dennoch scheinen mir zwei prinzipielle Erkenntnisse naheliegend: Wem tierisches Leid gleichgültig ist, ist ein abgestumpfter Mensch. Wer aber ein Dilemma sieht, wo entweder Kinder oder Kühe aus einem brennenden Stall zu retten wären, scheint mir bei der Frage, was den Menschen einzigartig macht, ziemlich im Dunkeln zu tappen.