Wer Smartphone & Co. nicht im Griff hat, riskiert, von der Reizüberflutung mitgerissen zu werden und innerlich zu verkümmern.

Von Dominik Lusser

Die ungeheure Geschwindigkeit der digitalen Welt, mit der wir mittlerweile fast ständig verbunden sind, stimuliert unser Gehirn mit einer Flut von Reizen. „Unsere Aufmerksamkeit splittet sich, sowie die Zeit, die wir mit einer Sache verbringen, sich mathematisch teilt“, erklärt der Neurologe Jean-Philippe Lachaux. Darum hätten wir den Eindruck, dass alles schneller werde und alles schnell gehen müsse. Wir werden immer ungeduldiger.

„Unser Gehirn sucht ständig das Gefühl der sofortigen Befriedigung“, sagt der Forscher vom „Neuroscience Research Center“ in Lyon. „Eine neue Information, ob positiv oder negativ, stimuliert das neuronale Belohnungssystem. Dadurch gerät man schnell in eine Dynamik, in der man versucht, immer mehr zu bekommen, so häufig wie möglich.“ Für die gesteigerte Erwartungshaltung der Konsumenten im digitalen Zeitalter hat der österreichische Schriftsteller Peter Glaser bereits 2007 den Begriff der „Sofortness“ geprägt. Gleichzeitig buhlt die Werbebranche mit immer subtileren und wirkungsvolleren Strategien um die knappe Ressource unserer Aufmerksamkeit. Denn für die Wirtschaft bedeuten Sekunden Milliarden.

Das gilt auch für jene Medien, die uns alles als relevant verkaufen, was Aufmerksamkeit verspricht. „Dieser Schwindel steht im Zentrum des Geschäftsmodells der News-Industrie“, schrieb Rolf Dobelli kürzlich in der NZZ. Der Schriftsteller rät: Wollen Sie klarer denken und bessere Entscheidungen treffen, machen Sie eine News-Diät.

Was aber ist, wenn alles zu viel wird? Die Neurowissenschaft geht aktuell davon aus, dass sich unser Gehirn maximal jede Zehntelsekunde bewusst einem neuen Inhalt zuwenden kann. „Unser aller Erfahrung sagt uns, dass wir gerade an die Geschwindigkeitsgrenze kommen, die unser Körper verträgt“, sagt Virginie van Wassenhove, die über das Zeitgefühl im Kopf forscht. Erhöhe sich die Reizintensität dennoch weiter, könne das Gehirn die Information nicht mehr verarbeiten, weil ihm dazu die Ressourcen fehlten. Physiologische Auswirkungen wie Erschöpfung wären dann die Folge.

Bereits 73 Prozent der Franzosen finden, sie seien von ihren digitalen Hilfsmitteln abhängig. Gleichzeitig spüren 72 Prozent, dass digitales Fasten ihrer Gesundheit gut täte. „Die Herausforderung besteht darin“, so der Pariser Neurologe Lionel Naccache, „sich einen mentalen Raum zu schaffen, um ein geistiges Innenleben zu entwickeln, was für das menschliche Denken grundlegend ist. Wenn ihr Umfeld solche Erfahrungen nicht zulässt, riskieren sie garantiert eine Verarmung der Vorstellungskraft oder ihre Versklavung durch die digitale Unmittelbarkeit.“

Diese Erkenntnisse der Neurowissenschaft hören sich an wie ein Echo auf das, was der mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin in seiner Theologischen Summe (I, q. 18) darüber gesagt hat, was es bedeutet, lebendig zu sein. Lebendig ist das, was sich selbst zu seinem Tätigsein bestimmt, und nicht von anderem dazu bewegt wird. Je mehr etwas aus sich selbst heraus wirkt, desto lebendiger ist es. Das Tier mehr als die Pflanze. Der Mensch aber besitzt aufgrund seiner Vernunft und seines freien Willens ein noch höheres Mass an Lebendigkeit, ein höheres Mass an Selbstbesitz. Diesen Graden des Lebendigseins entsprechen Grade des Innenlebens. Ein Stein hat kein Innen, darum auch kein Leben. Das Innen meint nämlich, so der Thomas-Interpret Josef Pieper, jene dynamische Mitte eines Wirklichen, aus der alles Wirken entspringt und auf die alles Erfahrene gesammelt bezogen ist. Erst mit einem solchen Innen ist auch die Beziehungsfähigkeit gegeben. Denn Beziehungen werden von innen her nach aussen geknüpft.

Nun sind Lebendigkeit, Innenleben, Beziehungsfähigkeit und Freiheit im Menschen zwar seinsmässig angelegt. Sie können ihm daher nie absolut abhandenkommen. Doch ebenso wie sich diese Fähigkeiten im Laufe eines Lebens entfalten können, drohen sie in einem unvorteilhaften Umfeld und bei falschen Entscheidungen zu verkümmern. Es geht beim Umgang mit digitalen Hilfsmitteln letztlich um die Frage, ob wir uns nur noch treiben und hetzten lassen, oder ob wir noch Herr im eignen Hause sein und unser Leben selbst zu gestalten vermögen.

Es gibt keinen besseren Zeitpunkt für digitale Entschleunigung als die Ferien. Doch auch wer diese Chance gerade wieder einmal verpasst hat und am Strand oder in der Bergbahn ständig zum Handy greifen „musste“, kann aus dem digitalen Hamsterrad aussteigen. Wie wäre es etwa, bei der Zugfahrt zur Arbeit das Auge einfach mal auf der schönen Landschaft draussen ruhen zu lassen? Oder gelegentlich ins eigene Innere zu horchen, statt nur am Handybildschirm zu kleben, sich News reinzuziehen oder den Beliebtheitsstatus zu checken, von dem unsere Befindlichkeit immer mehr abzuhängen scheint? Ein Vorsatz könnte ebenso sein, ganz bewusst nur noch wenige reale, anstatt unzählige, dafür umso flüchtigere virtuelle „Beziehungen“ zu pflegen. Ein einsamer Waldspaziergang hilft ebenfalls dabei, die nötige Distanz zwischen unserem Selbst und den Eindrücken, die uns umtreiben, wiederzugewinnen.

Wer hingegen aus jedem „Reizvakuum“ reflexartig in digitale Ablenkungen flüchtet, riskiert, von der Flut der Reize weggespült zu werden, innerlich zu verkümmern und seine Freiheit zu verlieren.

Auch nachzulesen als Gastbeitrag in der NZZ vom 24. August 2019.