Wissenschaftler staunen über die Fülle des Lebens in der Tiefsee. Mehr als zehn Millionen Arten leben im grössten Biotop der Erde.
In der Tiefsee, die noch kaum erforscht ist, herrscht eine beeindruckende Artenvielfalt. Bei dem internationalen Forschungsprojekt „Census of the Diversity of Abyssal Marine Life“ kamen Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass dort mindestens zehn Millionen verschiedener Arten von Fischen, Säugetieren, Korallen und Algen leben. Noch vor 20 Jahren nahm man an, dass in der Tiefsee kein Leben existiert.

„Die Tiefsee ist das grösste zusammenhängende Ökosystem der Welt“, erklärt der Meeresbiologe Chris German. Dass sie auch „der grösste Siedlungsraum für Leben“ ist, hat die Fachwelt überrascht. Der grösste Teil der Tiefsee ist vollkommen unerforscht und zu grossen Teilen noch nicht einmal detailliert kartographiert. 62,3 Prozent der Erdoberfläche liegen mehr als 1000 Meter unter dem Meeresspiegel und damit in völliger Dunkelheit. Zum Vergleich: Alle Kontinente zusammen bilden 29,2 Prozent der Erdoberfläche und nehmen damit weniger als halb so viel Raum ein wie die Tiefsee. Prof. Michael Türkay vom Forschungsinstitut Senckenberg in Bremerhaven hat ausgerechnet, dass mit insgesamt fünf Quadratkilometern gerade einmal 0,0000016 Prozent der Gesamtfläche der Tiefsee von Wissenschaftlern in einen ersten Augenschein genommen wurden. Sich ein Bild von der Wirklichkeit 1000 Meter und mehr unter dem Meeresspiegel zu machen, ist extrem aufwendig und teuer.

Vor zehn Jahren haben Meeresbiologen aus 70 Ländern das Projekt „Census of Marine Life“ (COML) gestartet. 14 Arbeitsgruppen gehen der Frage nach, wie viel Leben es in der Tiefsee gibt. Im Rahmen des Forschungsprojekts finden Expeditionen statt, die zum Teil mehrere Wochen dauern. Die Wissenschaftler arbeiten mit Echolotgeräten, ferngesteuerten Unterwasserfahrzeugen und automatischen Videokameras, um Licht ins Dunkel zu bringen. Im Oktober diesen Jahres soll das Projekt einen vorläufigen Abschluss finden. Was die Wissenschaftler in der Tiefsee entdecken, ist höchst erstaunlich und widerspricht ihren Erwartungen. Erst seit 1992 weiss man, dass die Tiefsee überhaupt belebt ist. Zuvor war die Lehrmeinung, dass aufgrund der lebensfeindlichen Bedingungen in der Tiefsee kaum Lebewesen vorhanden seien. Damals entdeckten Nancy Maciolek und Fred Grassile auf einer Fläche von gerade einmal 21 Quadratmetern in Tiefen von bis zu 2’000 Metern fast 900 Arten vielzelliger Tiere mit mehr als 90’000 Individuen.

Die vorläufigen Ergebnisse des „Census of Marine Life“-Projekts zeigen, dass die Artenvielfalt um ein Vielfaches höher als bislang angenommen ist. Die Vielfalt der Lebensformen, die in der extremen Kälte, dem enormen Druck und der Dunkelheit der Tiefsee vorkommen, erstaunten die Wissenschaftler. Im Golf von Mexiko, in 1’000 Metern Tiefe, entdeckten die Forscher den Röhrenwurm Lamellibrachia. Als ein Greifarm des Tauchroboters den Wurm verletzte, sprudelte Rohöl aus dem Innern des Wurms. Offenbar nutzt das Tier Zersetzungsprodukte des natürlich austretenden Rohöls am Meeresgrund als Nahrungsquelle.

Prof. Pedro Martinez, Leiter des Senckenberg-Zentrums für marine Biodiversitätsforschung, berichtet, dass man inzwischen davon ausgeht, dass in der Tiefe der Meere rund zehn Millionen verschiedener Arten von Fischen, Korallen, Säugetieren und Algen leben. Die Zahl ergibt sich aus Hochrechnungen. Die Tiefsee kann immer nur punktuell und kurzzeitig untersucht werden. Aus dem, was man dabei entdeckt, werden Schlüsse gezogen und Hochrechnungen angestellt. Es gibt auf der Erde offensichtlich keinen Ort, an dem sich kein Leben ausgebreitet hat. Auch an extrem lebensfeindlichen Orten, wie etwa in kochend heissen Schwefelquellen, am Rande der Atmosphäre oder in der nährstoffarmen Tiefsee, gibt es Leben.

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Von Thomas Lachenmaier