Wie die reformislamische Tageszeitung „Zaman“ (Die Zeit) in ihrer Sonntagsausgabe vom 6.3.2011 berichtet, hatten die evangelischen Christen in der Türkei im vergangenen Jahr unter zahlreichen Angriffen auf ihre Kirchen und Gemeindezentren sowie unter persönlichen Attacken zu leiden. Der Verfasser des Artikels, Yonca Poyraz Dogan, führt diese Missstände in erster Linie darauf zurück, dass die türkischen Protestanten über keinerlei rechtlichen Schutz verfügen.
Die ersten evangelischen Christen in der Türkei waren Geschäftsleute im Umfeld der niederländischen Gesandtschaft beim Sultan in Istanbul. Auf deren Gelände entstand 1711 die erste protestantische Kirche. Sie beherbergte – und das bis heute – auch andere reformatorische Gemeinden. Unter ihnen auch deutschsprachige Protestanten, bis diese 1861 ihre erste eigene Kirche erhielten. Es handelte sich bei allen ausschliesslich um ausländische evangelische Christen, die durch ihre diplomatischen Vertretungen geschützt und nicht dem damaligen islamischen Religionsrecht der Türkei unterstellt waren.

Unter diesem durfte sich auch jede christliche Verkündigung nur an die Nicht-Moslems richten. Während heute sogar die Ansicht vorherrscht, dass Christen im islamischen Herrschaftsgebiet überhaupt nicht missionieren dürften, dass speziell die Heidenmission exklusives Privileg der Moslems sei, gestattete das Osmanische Türkenreich christlichen Glaubensboten aus Europa und Amerika die Gewinnung von Juden bzw. die evangelische „Erweckung“ orientalischer Christen. Dieses Werk wurde von amerikanischen Presbyterianern und Kongregationalisten im 19. Jahrhundert begonnen. Sie richteten in Istanbul das bis heute bestehende „Bible House“ und am Bosporus das Robert-College ein, das 1971 vom türkischen Staat verboten wurde. Die „Basler Mission“ und die Deutsche Orient-Mission wirkten gezielt unter den Armeniern und den Griechisch-Orthodoxen, besonders am Schwarzen Meer. Nach dem osmanischen Staatskirchenrecht blieben diese evangelischen Armenier und Griechen jedoch Angehörige ihrer ursprünglichen Religionsgemeinschaften. So mussten sie auch zwischen 1890 und 1924 deren tragisches Schicksal an Massakern und Vertreibungen teilen. Die meisten überlebenden evangelischen Schwarzmeergriechen wurden in Griechenland am Olymp angesiedelt.

Die Bekehrung von türkischen Muslima und Moslems zum evangelischen Christentum ist eine verhältnismässig junge Entwicklung. Doch gibt es inzwischen schon 55 Gemeinden, die in der „Evangelischen Allianz“ der Türkei zusammengeschlossen sind. Obwohl die Verfassung der modernen Türkei die Religionsfreiheit garantiert, sahen und sehen sich diese Neuchristen der Feindseligkeit ihrer Verwandten, ihrer islamischen Umgebung und Schikanen der Polizei ausgesetzt. Dabei handelt es sich um Verhaftungen, Misshandlungen und ungebührlich lange Untersuchungshaft.

Unter anderem erwähnt der Bericht in „Zaman“ aus Izmir vom Dezember 2010 die Misshandlung eines Arbeiters durch den Fabrikbesitzer, als dieser erfuhr, dass der junge Moslem den christlichen Glauben angenommen hatte. Mitten in der Hauptstadt Ankara wurden der Evangelischen Kirche im Stadtteil Kurtulus wiederholt die Fenster eingeschlagen. Die türkische Polizei weigerte sich sogar, Anzeigen dieser antichristlichen Vandalenakte anzunehmen, geschweige denn nach den Tätern zu fahnden.

Abgesehen von diesen Übergriffen beklagen die Evangelischen in der Türkei auch die Verschleppungstaktik der Behörden bei Anwendung des Kultstättengesetzes 3194 von 2003. Dieses wurde Ankara im Rahmen des „Sechsten Harmonisierungspaketes“ von der EU abgerungen. Es soll auch jungen nicht-islamischen Gemeinschaften wie den Evangelischen die Möglichkeit zu legalen Gottesdiensten und Versammlungen geben. Auf der Basis dieses Gesetzes hatte die Evangelische Gemeinde des Istanbuler Stadtteils Besiktas 2006 eine Kultstätte genehmigt bekommen. Doch wurde diese Erlaubnis im Mai 2010 wieder zurückgezogen. Und am 10. Januar dieses Jahres wurde der Vorsteher der „Protestantischen Kirche Ümraniye“ zu einer hohen Geldstrafe verurteilt, weil er in Privatwohnungen Bibelstunden abgehalten hatte …

Von Heinz Gstrein