„Im Namen Gottes des Allmächtigen!“ Unter diesen einleitenden Worten ist die Schweizer Bundesverfassung niedergeschrieben, das bedeutendste Gesetzbuch hierzulande. Es ist klar, dass damit der christliche Gott gemeint ist. Doch in Zeiten von Gesellschaftsliberalisierung und Staatssäkularisierung ist diese Frage nicht unberechtigt: Die Schweiz – ein christliches Land?

Von Benjamin Zürcher

Geschichtlich betrachtet ist die Schweiz allemal ein christliches Land: „In Gottes Namen Amen“, sind die ersten Worte des Bundesbriefes von 1291. Ein zentraler Punkt in der Geschichte der Schweiz ist zudem die Entstehung des Protestantismus: 1523 reformierte Zwingli Zürich, wodurch u.a. die weltweite Mennoniten-Bewegung entstand. 1536 kam der Protestantismus auch in Genf an, mitunter durch Johannes Calvin. Der christliche Glaube blieb auch in Form von Traditionen durch das 21. Jahrhundert weiter präsent: So ruft man im Appenzell während der Alpzeit den sogenannten „Betruf“ über die Berge. Und im Wallis haben viele Dörfer die alljährliche Fronleichnamsprozession gemeinsam.

Doch auch in anderen kulturellen Bereichen ist das Christentum nicht wegzudenken: Dürrenmatt, Gotthelf und Hesse sind die bekanntesten Schweizer Schriftsteller. Allesamt sind Söhne von Pfarrern oder Missionaren. Selbst die grossen Städte im Land sind christlich geprägt: Direkt nach dem Jet d’eau ist die Kathedrale St. Pierre die bei Touristen beliebteste Sehenswürdigkeit Genfs. Und was wären Bern und Zürich ohne das Berner Münster bzw. das Grossmünster? Geschichte, Brauchtum, Literatur und Architektur sind also vom Christentum geprägt – und das sind nicht einmal alle Bereiche, in denen der christliche Glaube verwurzelt ist.

Die Schlussfolgerung dieser Bestandsaufnahme stellt also klar, dass der Glaube ein zentrales Element unserer nationalen Identität ist. Doch was bleibt davon übrig? Wir leben in einem Land, in dem immer mehr Menschen aus den Landeskirchen austreten und die Freikirchen zunehmend verweltlicht werden. Ein Land, das über die Streichung des Gottesbezugs in der Verfassungspräambel diskutiert und in dem Themen wie Transidentität und LGBTIQ-Rechte hochaktuell sind. Oder sind das nur Zeichen der Suche der Menschen nach einer Identität, die eigentlich in ihrem Schöpfer zu finden wäre? Und wir Christen? Wissen wir noch, was unser Glaube bedeutet? „Wieso braucht es den christlichen Glauben im 21. Jahrhundert noch?“, fragte ich drei junge Christen. Diese antworteten mir wie folgt:

„Unsere Gesellschaft, die von Ablenkungen nur zu geprägt ist, sehnt sich unbewusst nach mehr. Sie sehnt sich nach Wahrheit und Liebe. Und dies ist nirgends so vollkommen wie in Jesus Christus, der im Tabernakel auf uns wartet.“
Lisa, 18, Gymnasiastin, römisch-katholisch

„Gerade jetzt sieht man, dass der christliche Glaube eine Gemeinschaft fördert, die in solchen Zeiten ein unersetzlicher Anker für die Gesellschaft ist. Keine andere Gemeinschaft kann diese tiefe, persönliche Verbindung zueinander ersetzen – und diese Verbindung ist zeitlos.“
I.O., 19, Student, evangelisch-reformiert

„Weil er dem Leben Sinn gibt. Weil er eine prägende Stabilität, eine prägende Kraft, Weisheit in schwierigen und herausfordernden Situationen gibt. Er gibt mir Freude, Zufriedenheit, Erfüllung und Hoffnung. Eine Hoffnung über das Leben auf dieser Welt hinaus und damit eine bleibende Sicherheit – egal was kommt.“
Evodia, 29, Assistenzärztin, Mitglied Freikirche

Nach diesen persönlichen Aussagen lohnt sich ein Blick in die Statistik: 2019 glaubten nur 15,1 Prozent der Schweizer Wohnbevölkerung weder an Gott noch an eine höhere Kraft. Hingegen sind etwa 59 Prozent entweder evangelisch-reformiert oder römisch-katholisch. 65,8 Prozent nehmen laut Bundesamt für Statistik mindestens einmal pro Jahr an einem Gottesdienst teil und zumindest 24,1 Prozent, also ein knappes Viertel der Bevölkerung, beten täglich oder fast täglich zu Gott.

Kommen wir zur Ursprungsfrage zurück: Ist die Schweiz ein christliches Land? Auf jeden Fall ist die Schweiz ein Land, das kaum wie ein anderer Staat der Welt vom Christentum geprägt ist. Noch heute ist der Glaube an Gott fest in der Verfassung und der Nationalhymne verankert und hat für viele Menschen hierzulande eine grosse Bedeutung. Doch die Schweiz ist auch von einer zunehmenden Säkularisierung und von immer mehr Kirchenaustritten betroffen. Gott solle endlich aus Hymne und Verfassung verschwinden, wird von linken und liberalen Politikern gefordert. Erst vor wenigen Monaten strich die fünftgrösste Partei des Landes ihr „C“ aus dem Parteinamen in der Hoffnung auf mehr Stimmen – welche sich bei den Wahlen im Wallis und in Solothurn nicht erfüllte. Doch was ist die Schweiz eigentlich? Die Schweiz wäre nichts ohne die Menschen, die in ihr leben. Und so wird diese Frage plötzlich ganz persönlich. Oder wie es der Begründer des Christentums einst selbst gesagt hat: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ (Matthäusevangelium 16,15)