Weshalb ist Europa reich und frei? Wenn eine Religion Freiheit nicht fördert, sondern behindert, findet eine Entwicklung zum Wohlstand nicht statt. Reichtum setzt Freiheit voraus. Ohne Gedankenfreiheit keine Forschung und kaum wissenschaftliche Entwicklung. Für Bürger von westlichen Staaten ist die Freiheit des Individuums ausserdem als hohes oder höchstes Gut so selbstverständlich, dass wir annehmen, das Streben nach Freiheit sei in allen Völkern oberstes Ziel. Das trifft aber keineswegs zu. Im Gegenteil: Freiheit des Individuums ist in nichtchristlichen Kulturen kein gesellschaftliches oder politisches Ziel.
Freiheit kommt von Gott. Sie spielt schon im Alten Testament eine wichtige Rolle und ist ein, vielleicht das zentrale Thema im Neuen Testament. Gott kommt zu den Menschen, weil er sie aus der Gefangenschaft durch Sünde und Schuld befreien will. Und aus dieser geistlichen Freiheit in der Beziehung zu Gott entwickelt sich auch die Idee von der irdischen und politischen Freiheit des Individuums. Das ist so ungewöhnlich, dass auch im christlichen Abendland nur durch eine Jahrhunderte dauernde Entwicklung gesellschaftliche Strukturen entstanden, die die individuelle Freiheit gesetzlich garantieren, sodass sie schliesslich als selbstverständlich und universell empfunden werden.

Cäsar, Lenin, Hitler und Co.

Freiheit des Individuums gehört in der Geschichte der Menschheit zu den jüngeren Errungenschaften und ist hauptsächlich aus dem biblischen Gottes- und Menschenbild zu erklären. Weder Alexander der Grosse, noch Cäsar, noch Dschingis Khan wollten den eroberten Völkern individuelle Freiheit verschaffen. Sogar die Französische Revolution hat zwar Freiheit versprochen, zunächst aber Terror, Diktatur, Kriege und Not hervorgebracht. Lenin versprach Freiheit und Wohlstand, hat aber die Sowjetunion und die Satellitenstaaten in Gefängnisse und Armenhäuser verwandelt. Hitler hat sich gar nicht die Mühe gemacht, den Menschen Freiheit zu versprechen. Er wollte die Herrschaft der arischen Rasse. Demgegenüber ist und bleibt es Gottes Ziel, die Menschen aus Gebundenheiten und aus repressiven Systemen herauszuholen und ihnen in der Gemeinschaft mit ihm innere und äussere Freiheit zu schenken.

Das christliche Gottes- und Menschenbild – Ursprung der Freiheit

Bei der Schilderung der Kräfte, die Europa geformt haben, werden häufig griechisches Denken, römisches Recht und das Christentum genannt. Nicht selten wird dabei der Eindruck erweckt, diese drei Kräfte wären etwa gleich intensiv an der Entstehung und am Erfolg Europas beteiligt. Wir werden aber sehen, dass das christliche Gottes- und Menschenbild die entscheidende und treibende Kraft ist, aus der heraus sich Europa entwickelt hat. Natürlich haben die westeuropäischen Völker viel vom römischen Rechtssystem profitiert. Latein wurde die Sprache der Kirche und jeder Form von Bildung. Zudem waren Christentum und römisches Recht für das Zusammenwachsen der europäischen Völker von grosser Bedeutung. So hat das von der Kirche aufgebaute kanonische Recht wesentliche Elemente römischer Rechtsbegriffe übernommen, und das kanonische Recht ist einerseits im Mittelalter teilweise Vorbild für staatliche Gesetzgebungen geworden. Aber ein Rechtssystem ist nicht Ursprung einer Kultur, sondern die Kultur schafft sich eine Rechtsordnung. Das Christentum hat römisches Rechtsdenken und römische Praxis der Rechtsprechung benützt, um damit einen rechtlichen Rahmen für die vom christlichen Menschenbild bestimmte Gesellschaft zu schaffen. Aber es hat die römische Götterwelt und die damit verbundene Weltsicht der Menschen abgelehnt und bekämpft.

Das Christentum hat durch die führenden Theologen der ersten Jahrhunderte auch Denkelemente der griechischen Philosophie aufgenommen. Es ist aber dadurch nicht soweit hellenisiert worden, dass die biblischen Offenbarungen und das Gottes- und Menschenbild verfälscht worden wären. Was die griechischen Naturwissenschaften betrifft – Astronomie, Mathematik, Geologie, Medizin – so ist zu bedenken, dass diese Erkenntnisse erst in der Renaissance in Westeuropa allgemein bekannt wurden. Zu dem Zeitpunkt waren jedoch die für Westeuropa entscheidenden Weichen in Richtung Freiheit des Denkens, Erforschung der Natur, Trennung von Kirche und Staat und demokratische Strukturen bereits gestellt. Die Inhalte und die gewaltigen seelischen Energien, die für den Aufbau der westlichen Welt nötig waren, stammen aus dem christlichen Gottes- und Menschenverständnis.

Der Mensch: begabt mit Gewissen und Würde und berufen zur Familie

Um Person sein zu können, muss der Mensch Entscheidungsfreiheit haben. Er muss einen eigenen Willen haben und diesen auch umsetzen können. Mit Freiheit ist auch die Gefahr von Fehlentscheidungen verbunden und die Möglichkeit, einer Versuchung zu erliegen. Der Mensch braucht einen Kompass, um sich moralisch zu verhalten. Zwar kann das Gewissen aufhören, sich an Gott zu orientieren, aber der Mensch bleibt mit Gewissen begabt.

Würde hängt auch sprachlich mit Wert zusammen. Unter Menschen wird Würde jemandem zuerkannt, der sie durch Leistung verdient hat und deshalb diese Anerkennung wert ist. Gott handelt ganz anders. Er verleiht jedem Menschen ohne Unterschied und ohne jede Leistung dieselbe Würde, nach seinem Bild geschaffen zu sein. Gott verleiht Würde und Wert, indem er sie dem Menschen zusagt, denn Gottes Wort schafft Realität. Die Menschenwürde kann man nicht verlieren, nicht weil sie in einer Verfassung als unverlierbar erklärt wird, sondern weil sie von Gott stammt. Jesus bekräftigt dies, als er die Jünger davor warnt, irgendeinen Niedriggestellten zu verachten: „Sehet zu, dass ihr nicht eins dieser Geringeren verachtet! Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel schauen allzeit das Angesucht meines Vaters in den Himmeln.“ (Matth. 18,10)

Gott hat den Menschen als Mann und Frau geschaffen und damit die Ehe als Grundordnung des menschlichen Lebens festgelegt. Gott hat also das Wesen der Menschen in der geschlechtsbedingten Verschiedenheit von Mann und Frau gewollt. Mann und Frau bilden gemeinsam das Ebenbild Gottes. Jeder Mensch stammt aus der innigen Gemeinschaft eines Mannes und einer Frau, die zur Verschmelzung einer Eizelle mit einer Samenzelle führt. Bekanntlich werden etwa gleich viele Knaben wie Mädchen geboren. Gottes Absicht ist nicht die Vielehe, sondern die Einehe. Und die Jungfräulichkeit weist darauf hin, dass Gott die Ehe als einmalige, lebenslange Liebesgemeinschaft von Mann und Frau gedacht hat. Für Kinder bietet das Geborgensein in einer solchen Ehe die besten Voraussetzungen für die Entwicklung einer psychisch gesunden und lebensbejahenden Persönlichkeit.

Zusammenhang von Moral und Kultur

Wir erinnern uns an die Untersuchungen von David Unwin. Der englische Ethnologe vermutete aufgrund seiner Studien längst vergangener Kulturen einen Zusammenhang zwischen dem Sexualverhalten und der Kultur der Völker. Dabei stellte er zu seinem grossen Erstaunen fest, dass es hier einen direkten Bezug gibt: Je grösser die sexuelle Freiheit, desto niedriger das kulturelle Niveau. Der Aufbau einer höheren Kultur setzt die Beherrschung der Sexualität voraus. Dadurch entsteht das, was Unwin die „soziale Energie“ nennt. Sexuelle Impulse werden in kulturelle Leistungen umgesetzt. Die Hochkulturen der Vergangenheit zeichnen sich dadurch aus, dass sie am Anfang ihres kulturellen Aufstiegs neben der vorehelichen Keuschheit auch auf einer Monogamie bestanden. Damit bringt Unwin den Faktor Moral in die Betrachtung von Aufstieg und Niedergang der Völker in die Diskussion. Unwin stellt weiter fest, dass sich bei den Hochkulturen die Tendenz abzeichnet, mit der Zeit die Monogamie und die Forderungen der vorehelichen Keuschheit fallen zu lassen. „Es kommt zu einem kulturellen Niedergang dieser Hochkultur und in den meisten Fällen auch zu einer Eroberung durch andere Völker.“ Allerdings erfolgt der Abstieg mit zeitlicher Verzögerung. David Unwin: „Jede menschliche Gesellschaft hat die Freiheit sich zu entscheiden, ob sie eine hohe soziale Energie oder sexuelle Freizügigkeit will. Die Fakten zeigen, dass beides gleichzeitig nicht länger als eine Generation möglich ist.“

Dies ist ein Auszug aus dem 2011 erschienenen Buch „Europas Aufstieg und Verrat – eine christliche Deutung der Geschichte“ (MM Verlag Aachen, ISBN: 9783942698108, Fr. 33/€ 22.90). Mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Pfr. Hansjürg Stückelberger