Die Islamisierung Europas ist ein Thema, über das in der Öffentlichkeit ehrlicher gesprochen werden sollte. Auf der einen Seite haben wir die Anhänger beschönigender Theorien, die an eine automatische Assimilierung der Musliminnen und Muslime bei uns sowie baldigen Zerfall des Weltislams in Konfessionskriegen und Selbstzerfleischung glauben. Auf der anderen Seite den Wunschtraum vom „Euroislam“, der sich ohne Frauenknechtung und Diskriminierung aller Andersgläubigen den europäischen Standards von Gleichberechtigung der Geschlechter und Religionen anpasst.Der Islam ist aber nicht „irgendeine Religion“, deren Ausübung andere Menschen nicht betrifft. Von Mohammed wissen wir durch seine im Koran gesammelten Aussprüche und aus frühen islamischen Beschreibungen seines Lebens. Wichtige Quellen sind dazu die „Kriegsbücher“ (maghazi). In ihnen werden seine Feldzüge chronologisch abgehandelt. So hat Mohammed selbst den Anfang mit militärischer Ausbreitung der islamischen Herrschaft über alle Andersgläubigen gemacht. Das blieb durch die ganze islamische Geschichte die Richtschnur. Bis zu einem der erklärtesten Vordenker und Wortführer dieses „Heiligen Krieges“ (Dschihad) in unseren Tagen, dem indischen Moslem Abu l-Ala Maududi (1903-1979), der bekräftigt: „Der Islam ist keine normale Religion wie die anderen Glaubensrichtungen, und muslimische Völker sind auch nicht wie normale Nationen. Muslimische Völker sind etwas ganz besonderes, weil sie einen Befehl von Allah haben, über die gesamte Welt zu herrschen und über jeder Nation auf der Welt zu stehen.“ Also ein klarer Herrschaftsauftrag, nicht ein Verkündigungsauftrag, wie ihn uns Christen Jesus hinterlassen hat. Im Evangelium heisst es: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“. Der Islam hingegen will in erster Linie ein Reich von dieser Welt aufbauen, nach dem Motto: „Ein Allah – ein Glaube – ein Reich!“
Pochen auf europäische Grundrechte
Dieses Reich auszuweiten ist gerade die Diaspora ausserhalb des islamischen Herrschaftsbereiches verpflichtet. Sie hat es dabei schon weit gebracht. Die Muslime bei uns pochen für sich auf die europäischen Grundrechte und Freiheiten, die sie selbst daheim in Abrede stellen. Während Saudiarabien jedes Zeichen christlichen Glaubens und Lebens, sogar das Beten und Lesen der Bibel in den eigenen vier Wänden verbietet, durfte dieser Staat – und nicht etwa eine Schweizer Muslimgemeinde – in Genf eine grosse Moschee errichten, die es total, auch gegen offenere islamische Stimmen, kontrolliert. Im Namen der schweizerischen Religionsfreiheit wird gerade jetzt der Bau von Minaretten verlangt, während sogar ein eher gemässigter Muslimführer, der derzeitige türkische Ministerpräsident Erdogan sagt: „Die Minarette sind Bajonette der islamischen Machtergreifung“. Kopftuch und Schleier werden immer mehr zu Signalen für die politische Herrschaft des Islams. Schon vor 50 Jahren hatten sich in Algerien die schon ziemlich europäisierten Frauen wieder verschleiert und so gegen die französische Kolonialherrschaft demonstriert. Dasselbe war dann 1978/79 bei den Iranerinnen während der islamischen Revolution gegen den Schah der Fall. In der Türkei machen Militärs und Laizisten den Kampf gegen das Kopftuch zu ihrem immer vorrangigeren Anliegen: Lehrerinnen und Beamtinnen müssen genauso Haar zeigen wie die Besucherinnen des Kriegsmuseums in Istanbul oder die Mütter von Rekruten beim Besuch ihrer Söhne in den Kasernen. Aber bei uns ist das Kopftuch mitten in Europa zu einem der Hauptmerkmale einer muslimischen Parallelgesellschaft geworden.
Konträres Gesellschaftsmodell
Der Islam bietet ein konträres Gesellschaftsmodell zu allem bei uns – noch – Vorherrschenden. Darin besteht seine Gefahr. Aber unsere orientierungslose und werteverunsicherte Konsumkultur wird so von einer fremden Kultur, die immer einflussreicher wird, gezwungen, ihren eigenen Standpunkt und ihre eigenen Werte zu definieren. Wir werden durch das Eindringen des Islam wieder zu unseren eigenen kulturellen Wurzeln getrieben. Und diese Wurzeln sind christlich.
Der Islam hält uns Christen also den Spiegel vor. Das ist nicht zum ersten Mal so. Bei dieser einzigen grossen nachchristlichen Religion handelt es sich ja nicht nur um „Teufelswerk“, wie viele Theologen des Mittelalters meinten; auch nicht einfach um „die letzte und schlechteste aller Religionen“, als die der Philosoph Arthur Schopenhauer die Botschaft Mohammeds eingeschätzt hat. Das Auftreten dieser weniger religiösen als politischen Ideologie 600 Jahre nach Jesus Christus und ihr bis heute anhaltender Erfolg haben sicher ihren Sinn im göttlichen Heilsplan. Sie sollen uns zu besseren Christen machen. Das war schon zur Zeit Mohammeds so, als sich gerade die orientalischen Kirchen in einem traurigen Zustand befanden. Der Islam, von dem – wenn auch ausserchristlich – das grundlegende religiöse Strukturelement der Gemeinde wiederentdeckt und das allgemeine Priestertum erneuert wurde, der Gemeindegottesdienst und Predigt in die Mitte stellte, brachte nicht nur viele Christen unter seine Herrschaft, sondern hat ebenso die ostchristliche Kirchenreform des 8. und 9. Jahrhunderts ausgelöst: Der überwuchernde Bilderdienst und Heiligenkult der byzantinischen Kirche wurde in ihre theologisch vertretbaren Grenzen gewiesen, die Privatliturgie von Mönchen und Amtspriestern dem gemeinsamen Beten, Singen und Lesen aller Gläubigen zurückgewonnen.
Erinnerung an Verlorenes
So sollen auch heute die Musliminnen und Muslime unter uns sowie der globale islamische Machtaufbau nicht nur Ängste einjagen, sondern vor allem an vieles erinnern, das wir verloren haben: Den Mut eines Bekenntnisses zu christlichem Glauben und Leben in der Öffentlichkeit – die Hochschätzung der natürlichen Werte von Liebe, Ehe und mit Kindern gesegneter Familie in einer Zeit liberaler Gleichmacherei und Wertverfälschung sowie eines immer zügelloseren Libertinismus – das Einbringen christlicher Leitbilder in Bildung, Kultur und nicht zuletzt Politik. Wir müssen – Dank des islamischen Drucks – den rechten Weg finden zwischen totaler werteloser „Freiheit“ und erdrückendem Dogmatismus. Das ist die Herausforderung dieser Stunde.
Dr. Heinz Gstrein ist Orientalist, Theologe und langjähriger Korrespondent mit fundierter Kenntnis der orthodoxen und islamischen Welt. Er arbeitete über 30 Jahre für die NZZ und Radio DRS im Nahen Osten.
Von Dr. Heinz Gstrein