Seit Jahren bemüht sich die Türkei um einen Beitritt zur EU. Viele Fragen und Zweifel wurden dazu in Europa bereits geäussert. Der Umgang mit Menschenrechten, der Meinungsfreiheit und der Minderheitenschutz sind dabei die grossen Kritikpunkte – nicht zu Unrecht, wie ein Blick in die Geschichte der Türkei zeigt. Zwei dramatische Ereignisse in der jüngeren Geschichte des Landes führten dazu, dass die christlichen Gemeinschaften des früheren Osmanischen Reiches fast vollständig ausgerottet wurden: zum einen der Völkermord an den Armeniern, der bis heute vom türkischen Regierungschef Recep Erdogan geleugnet wird, zum anderen der Genozid an den Griechen. In seinem neu erschienenen Buch „Die Türkei in Europa: Gewinn oder Katastrophe?“ beschreibt der Politikwissenschaftler und Historiker Prof. Dr. Roberto de Mattei u.a. diesen Genozid – eine Geschichte beispielloser Grausamkeit, wie der folgende Buchauszug zeigt.
Im 19. Jahrhundert gab es in Kleinasien etwa 1,8 Millionen griechische Christen in rund vierzig Bistümern und 1,7 Millionen Armenier in 46 Diözesen. Die katholische Kirche konnte sich dank dem Schutz der europäischen Mächte, insbesondere Frankreichs, mit genügend Freiheit betätigen. Im Jahr 1912 betrieben französische Ordensgemeinschaften mit wirksamem Einfluss 30 Schulen in Konstantinopel, 21 in Smyrna und 81 im restlichen Kleinasien.

Systematisches Programm zur Ausrottung des Christentums

Mit der Errichtung der Republik Mustafa Kemals trat eine dramatische Verschlechterung der Situation ein, und es wurde ein systematisches Programm zur Ausrottung des Christentums durchgeführt. Die Regelung der so genannten „Kapitulationen“, welche jahrhundertelang die Privilegien der Ausländer garantiert und die Christen in der Türkei geschützt hatte, wurde zunächst 1914 einseitig von den Jungtürken aufgekündigt und dann endgültig 1923 durch den Vertrag von Lausanne aufgehoben. Damals begann also die Vernichtung und die Deportation der religiösen Minderheiten, die vom neuen Nationalstaat ausgeschlossen wurden.

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs zählte die griechisch-christliche Bevölkerung von Westanatolien und der Pontos-Region etwa 2 Millionen Menschen. Sie bildeten sehr alte Gemeinschaften, welche diese Gebiete seit mehr als zweitausend Jahren bewohnt hatten. Ihre Präsenz war jedoch mit der ethnisch-religiösen Anschauung der Jungtürken unvereinbar, die Mustafa Kemal sich in der Folgezeit zu eigen machte.

Die Ausrottung der Christen wurde von der türkischen Regierung schon vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in die Tat umgesetzt. Der Historiker Arnold Toynbee schreibt, dass die türkischen Repressalien gegen die Griechen Westanatoliens im Frühjahr 1914 begannen: „Die Bewohner ganzer griechischer Ortschaften wurden mittels terroristischer Handlungen aus ihren Häusern entfernt; ihre Häuser, ihre Ländereien und oft auch ihr Mobiliarvermögen wurden konfisziert, und nicht wenige Menschen wurden dabei getötet.“

Eroberung der Stadt Smyrna als trauriger Höhepunkt

Die Vertreibung der Griechen aus der Ägäisregion wurde zwischen 1916 und 1918 fortgesetzt. Die griechischen Christen wurden in Gruppen konzentriert und in Fussmärschen nach Inneranatolien deportiert. Hierbei wurden dieselben Methoden angewandt, deren man sich gegen die Armenier bediente. Die Anzahl der Toten und Vermissten wird zwischen 200‘000 und einer Million geschätzt. Der Massenmord fand seinen Höhepunkt am 9. September 1922 bei der Eroberung der von den Türken belagerten Stadt Smyrna. Die Truppen Mustafa Kemals setzten die Häuser der Griechen und Armenier in Brand, die vergeblich versuchten, über das Meer zu entkommen. Im Hafen langen zwanzig britische, amerikanische und französische Schiffe vor Anker, doch unternahmen die Schiffsbesatzungen nichts, um die Flüchtlinge zu retten oder dem Massaker ein Ende zu bereiten.

Der Metropolit von Smyrna, Chrysostomos, dem im französischen Konsulat Zuflucht angeboten wurden, liess sich bewusst nicht retten, damit er das Los seiner Gläubigen mit ihnen teilen konnte. Er wurde auf einem öffentlichen Platz gelyncht: Seine Augen wurden herausgerissen, und seine Nase und seine Ohren wurden abgeschnitten, bevor man ihm die Kehle durchtrennte.

Deportation der Überlebenden nach Griechenland

Das Massaker wurde unter anderem vom amerikanischen Konsul George Hornton bezeugt, der sagte, dass die Zerstörung Smyrnas „der letzte Akt eines zusammenhängenden Programms zur Auslöschung der Christenheit im einstigen Byzantinischen Reich war; die Verbannung einer uralten christlichen Zivilisation“. Die überlebenden Christen von Pontos wurden aufgrund eines im Vertrag von Lausanne festgelegten Bevölkerungsaustauschs nach Griechenland deportiert. Berechnungen zufolge wurden 1‘344‘000 türkische Bürger griechischer Herkunft und orthodoxen Glaubens gezwungen, ihr Land zu verlassen und sich nach Griechenland, dessen Sprache sie nicht einmal sprachen, deportieren zu lassen, während 464‘000 griechische Moslems in die Türkei überbracht wurden. Die Verfolgung hörte jedoch nicht auf. Im Jahr 1927 gab es noch 257‘814 Christen in der Türkei, wovon 178‘546 in Konstantinopel lebten; die Gesamtbevölkerung zählte 13‘648‘270 Menschen. Im Jahre 1950 waren nur noch 191‘262 Christen unter den etwa 19 Millionen Einwohnern übrig geblieben.

In den 1930er Jahren zwang der von Atatürk vorgenommene Prozess der „Türkifizierung“ des Landes die griechisch-orthodoxe Mehrheit, die überlebt hatte, zur Emigration. Diese Menschen hatten zur intellektuellen und wirtschaftlichen Elite der Türkei gehört. In den 1950er Jahren wurden die Überlebenden einem neuen Vernichtungsprogramm ausgesetzt. In der Nacht vom 6. auf den 7. September 1955, der „türkischen Nacht“, griffen rund 100‘000 mit Eisenstäben bewaffnete und in Gruppen organisierte Personen die von griechischen Orthodoxen soweit von Juden und Armeniern bewohnten Stadtviertel an. Die 64 orthodoxen Kirchen der Stadt, die Friedhöfe, Schulen, Krankenhäuser, Wohlfahrtseinrichtungen, Läden und Wohnungen der Griechen wurden während über zwölf Stunden geplündert und in Brand gesetzt; die Polizei schaute dabei untätig zu. Internationale humanitäre Organisationen schätzten den Schaden auf eine Milliarde türkische Lira nach damaligem Wert. Zehn Jahre später, im Jahr 1965, wurden 12‘000 Bürger griechischer Herkunft, die in Istanbul wohnten, unter dem Vorwand vertrieben, dass sie „Spione“ oder „unerwünschte Personen“ seien; ihr gesamtes Vermögen wurde beschlagnahmt.

Heute nur noch wenige Christen in der Türkei

Es liegen keine genauen Statistiken vor, aber man schätzt, dass heute etwa 100‘000 Christen in der Türkei leben, fast alle in den grossen städtischen Zentren Istanbul, Smyrna (Izmir) und Mersin. Bei gut der Hälfte handelt es sich um Gläubige der armenischen Kirche; die Katholiken zählen ungefähr 25‘000 Gläubige mit sechs Bischöfen; die syrisch-orthodoxen Gläubigen sind etwa 10‘000, die griechisch-orthodoxen rund 5‘000 und die Protestanten aus unterschiedlichen Denominationen rund 3‘000.

Zu den religiösen Minderheiten in der Türkei zählen heute die monophysitische armenisch-apostolische Kirche; die griechisch-orthodoxe Kirche, die dem Ökumenischen Patriarchen in Konstantinopel untersteht; die assyrische Kirche nestorianischen Ursprungs; die jakobitische syrisch-orthodoxe Kirche, deren Patriarch seinen Sitz in Damaskus hat; und die katholische Kirche, die sechs Diözesen in der Türkei hat. Die juristische Basis für diese Minderheiten ist nach wie vor der Vertrag von Lausanne aus dem Jahr 1923, der immer noch allein auf die armenisch-orthodoxen und jüdischen Religionen restriktiv angewandt wird.

Die Katholiken des lateinischen Ritus sind Ausländer ohne jeden juristischen Status oder eine Rechtspersönlichkeit, ebenso wie die Mitglieder der Kirchen der östlichen Riten (Assyro-Chaldäer, Syrer und Maroniten). Solche Kirchen haben nicht das Recht, ihre eigenen Bildungs- oder Sozialeinrichtungen, geschweige denn Seminare zur Priesterausbildung, zu besitzen und zu betreiben; sie haben auch nicht das Recht, Kirchen zu bauen. Die Beamtenlaufbahn (in der Polizei, der Armee und bei höheren Verwaltungsbehörden) steht Christen nicht offen. Die religiösen Minderheiten sind auch im Parlament nicht vertreten, was sie daran hindert, ihre gemeinsamen Interessen und die Interessen ihrer Mitglieder zu verteidigen.

Keine echte Religionsfreiheit

Die Türkei definiert sich als eine laizistische Republik, deren Verfassung die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz „ohne Rücksicht auf Unterschiede aufgrund von … Weltanschauung, Religion, Bekenntnis“ vorsieht und feierlich festschreibt, dass „Gottesdienste, religiöse Zeremonien und Feiern frei“ sind. Allerdings bestätigen die Ereignisse jeden Tag neu, dass es an einer echten Religionsfreiheit im Land fehlt. Der Artikel 24 der Verfassung vom 7. November 1982 bekräftigt: „Jedermann geniesst die Freiheit des Gewissens, der religiösen Anschauung und Überzeugung.“ Diese volle Freiheit wird aber in Wirklichkeit nur Bürgern moslemischen Glaubens zugebilligt.

In extra Kasten

„Moslems können keinen Völkermord begehen!“

Es sind Aussagen wie diese, mit welchen der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die europäischen Länder immer wieder überrascht und schockiert. Als die Islamische Konferenz (OIC) in Istanbul im letzten Jahr einen Wirtschaftsgipfel durchführte, war auch Sudans Staatschef Omar al-Baschir geladen. Gegen den Politiker läuft seit März 2009 ein internationaler Haftbefehl wegen seiner Kriegsverbrechen in Darfur. Erdogan wies laut der Süddeutschen Zeitung die Schuldvorwürfe gegen Al-Baschir und die Forderungen nach einer Festnahme des sudanesischen Präsidenten zurück. „Ein Muslim kann keinen Völkermord begehen“, erklärte er. Erdogan leugnet denn auch bis heute konsequent weiterhin den Völkermord der Türken an den Armeniern und anderen Minderheiten Ende des Ersten Weltkriegs, bei dem 1,5 Millionen Armenier vertrieben und getötet wurden. Es sei ein Fehler, die Tötung der Armenier als Genozid zu bezeichnen, „von einem Völkermord an den Armeniern kann keine Rede sein“, so der türkische Ministerpräsident im März 2010 in einem Interview mit dem Magazin Spiegel: Die Türkei mit ihrem Völkermord damals und ihrer Christenverfolgung bis heute zeigt, dass es um eine Reformierbarkeit des Islams, über die immer wieder in Europa diskutiert wird, schlecht bestellt ist. Für die Überlegungen einer Aufnahme der Türkei in die EU merkt der Historiker Prof. De Mattei daher ganz richtig an: „Es geht darum, was ein Volk prägt, es geht darum, Geschichte im Lichte dieser Prägungen und Wertvorstellungen zu begreifen und daraus Rückschlüsse für die Zukunft zu ziehen.“

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Zum Buch: Die Türkei in Europa: Gewinn oder Katastrophe?

Welche Identität hat die Türkei, und wie fügt sich diese Identität in die EU ein? Das noch vor 100 Jahren in weiten Teilen christlich besiedelte Land ist heute vom Islam und einem türkischen Nationalismus geprägt. Aus dieser Perspektive beleuchtet der Politikwissenschaftler und Historiker Roberto de Mattei, der an der Università Europea di Roma lehrt, die Kurden- und Zypernfrage, den Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern und wie sich die Demokratie in der modernen Türkei gestaltet. De Mattei betrachtet sowohl die geopolitische als auch die demographische Situation, wie sie sich in Europa darstellt, und welche Risiken für Europa verbunden sind. Der Autor verdeutlicht, dass mit einem Beitritt der Türkei in die EU der Islam in Europa zu einer dominanten Kraft wird, welche die Entwicklungen der Demokratien gefährden. Die zunehmenden Probleme, in die sich Europa durch unbedachte Entscheidungen begeben hat, zeigen die Notwendigkeit dieses Buches.
Roberto de Mattei: „Die Türkei in Europa: Gewinn oder Katastrophe?“, Resch-Verlag, 152 S., 21.90 Fr./13.90 €, ISBN 978-3-935197-95-3, im Buchhandel erhältlich

Prof. Roberto de Mattei