Jede Generation, jedes Jahrzehnt hat Dogmen, an denen augenscheinlich nicht zu rütteln ist. Das derzeit gültige Dogma lautet: „Du kannst dein Geschlecht selbst wählen. Fühlst du dich als junger Mensch im Geburtsgeschlecht nicht wohl, kannst du Pubertätsblocker nehmen.“ Den Umgang mit diesen Medikamenten behandelt eine neue Leitlinie, die dieser Tage vorgestellt wurde. Dieser lässt ungute Entwicklungen vermuten.

Von Ursula Baumgartner

Jeder Mensch hat vom Moment der Zeugung an ein Geschlecht, männlich oder weiblich. Es wird in erster Linie durch die Chromosomen bestimmt. Auch Hormone und Geschlechtsorgane und andere Geschlechtsmerkmale spielen eine wichtige Rolle. Das Geschlecht wird dann bei der Geburt oder vielleicht schon bei einer vorgeburtlichen Untersuchung festgestellt.

Heute nennt man das anders. Heute sagt man, einem Menschen werde bei der Geburt „ein Geschlecht zugewiesen“. Dahinter steht die Vorstellung, dass das biologische Geschlecht (engl. sex) und das „gefühlte Geschlecht“ (engl. gender) nicht unbedingt dasselbe sein müssen. Auch hierfür gibt es ein recht neues Vokabular. Die Menschen, deren „gefühltes“ und „überprüfbares“ Geschlecht übereinstimmen (also quasi 99 Prozent der Menschheit), nennt man heute „cis“, die anderen „trans“. Wissenschaftlich spricht man dann von „Geschlechtsinkongruenz“ oder „Geschlechtsdysphorie“.

Die Ablehnung des eigenen Körpers

Nun kann man sich im eigenen Körper wohlfühlen oder nicht. Gründe für Unwohlsein gibt es reichlich: Stress, Krankheit, falsche Ernährung. Doch auch tiefer sitzende Probleme äussern sich auf diesem Weg. Völlig fehlgeleitete Idealvorstellungen des weiblichen Körpers beispielsweise bringen viele Frauen dazu, ihren eigenen Körper abzulehnen. Auch traumatische Erfahrungen wie Missbrauch können in Ablehnung des eigenen Körpers münden. Und nicht zuletzt versetzen die Veränderungen der Pubertät manche Jugendliche so in Stress, dass sie sich in ihrem eigenen Körper nicht mehr „heimisch“ fühlen und ihm am liebsten entfliehen möchten.

In dieser Situation verschreiben viele Ärzte heute Medikamente, die man als Pubertätsblocker bezeichnet. Sie imitieren Hormone im menschlichen Körper und verhindern das Einsetzen der Pubertät oder deren natürlichen Weitergang. Damit will man den von Geschlechtsdysphorie betroffenen Kindern und Jugendlichen „mehr Zeit verschaffen“, damit sie über ihre eigene Identität nachdenken können. Dann sollen sie entscheiden, ob sie die Medikamente absetzen und die Pubertät im eigenen Geschlecht durchlaufen. Als Alternative, so sagt man, könnten sie über Hormone des anderen Geschlechts eine sogenannte Transition ins andere Geschlecht beginnen.

Pubertätsblocker – ganz harmlos?

Eine neue Leitlinie deutschsprachiger Mediziner, die Ende März 2024 vorab vorgestellt wurde, nimmt die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz und -dysphorie in den Blick. Auch Dagmar Pauli, Chefärztin an der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, war an der Studie beteiligt. Ihr zufolge wurden die meisten Empfehlungen „mit über 95-prozentigem Konsens“ getroffen. Dies überrascht, wenn man bedenkt, wie umstritten der Einsatz von Pubertätsblockern unter Medizinern heute ist.

Denn die Medikamente bewirken weitaus mehr, als nur „die mit der Pubertät angestossenen körperlichen Veränderungen“ zu blockieren, wie es die NZZ in einem Artikel schreibt. Pubertätsblocker sind keine folgenfreie Pausentaste, die man drücken kann, sondern können erhebliche Nebenwirkungen verursachen. Sie verringern die Knochendichte und erhöhen somit das Osteoporose-Risiko. Auch das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und für Tumore erhöht sich. Sie können die Gehirnentwicklung stören, was zu kognitiven Defiziten führen kann. Zudem wird das sexuelle Lustempfinden gehemmt. Somit können die Jugendlichen nicht lernen, es einzuordnen und damit umzugehen. Dies ist jedoch eine wichtige Lernaufgabe der Adoleszenz. Auch die Fruchtbarkeit wird durch die Pubertätsblocker heruntergefahren. Bislang weiss man nicht, wie lange dies auch nach ihrem Absetzen anhält.

Auch die Behauptung, durch die Pubertätsblockade bekomme der junge Mensch mehr Zeit zum Überlegen, hält nicht stand. Die Zeit lässt sich nun mal nicht anhalten. Der Jugendliche altert also, ohne in dieser Zeit zu reifen. Tobias Banaschewski, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters in Mannheim, warnt daher vor einer „ganz neuen seelischen Zwangslage“, in die die Jugendlichen dabei geraten könnten. „Wenn ich die körperliche und psychosexuelle Entwicklung einer Zwölfjährigen stoppe, dabei aber alle ihre Schulfreunde sich zu 14-, 15-, 16-Jährigen entwickeln, bringe ich die Jugendliche nicht in eine neutralere Ausgangssituation, damit sie eine bessere Entscheidung treffen kann.“

Es gibt also reichlich Gründe, mit Pubertätsblockern mehr als vorsichtig zu sein. Gründe, die Schweden, Finnland, Norwegen, Frankreich und England dazu gebracht haben, vor ihrem Einsatz eindringlich zu warnen und ihn stark einzuschränken. Medizinethikerin Claudia Wiesemann hingegen sieht das anders. Pubertätsblocker wegen der Nebenwirkungen nicht zu verwenden, findet die Mitautorin der Leitlinie „ethisch unangemessen“. Angesichts der Schwere der zu befürchtenden Schäden kann man hier nur den Kopf schütteln.

Mit Pubertätsblockern ist es nicht getan

Psychologen berichten, dass über 90 Prozent der Jugendlichen, die diese Blocker als „Pause“ nehmen, später auch zu gegengeschlechtlichen Hormonen greifen. In der Summe sind Pubertätsblocker also in den meisten Fällen ein „Feigenblatt“. Sie schaffen nicht die Basis für eine fundierte Entscheidung, sondern markieren den Beginn einer Transition. Wenn Jugendliche mit Geschlechtsinkongruenz hingegen keine Pubertätsblockade erhalten, söhnt sich der allergrösste Teil von ihnen bis ins Erwachsenenalter mit seinem eigenen Geschlecht aus. Für Dagmar Pauli ist das offenbar trotzdem kein Argument. „Geschlechtsangleichende“ Massnahmen täten jungen Menschen gut, „die geschlechtsdysphor bleiben“. Was mit den jungen Menschen geschehen soll, deren Geschlechtsdysphorie sich legt, die aber bereits behandelt wurden, bleibt offen.

Auch die Rolle, die die Medien hier spielen, ist oft problematisch. Die NZZ beschreibt unter dem Titel „Antworten auf die wichtigsten Fragen zur Geschlechtsidentität“ detailliert, wie eine chirurgische „Geschlechtsangleichung“ ins gewünschte Geschlecht verläuft. Nirgends weist sie jedoch darauf hin, dass ein Mann niemals eine Frau werden kann und umgekehrt. Bestenfalls kann man manche Geschlechtsmerkmale des anderen Geschlechtes imitieren. Menschen nach einer chirurgischen Transition bleiben meist lebenslange Patienten, mit mehr oder weniger schweren Beschwerden. Nach einer „Angleichung“ durch Hormone und Operationen ist ein Mensch in vielen Fällen unfruchtbar. Angesichts solch drohender Probleme ist es nicht passend, die Geschlechtsinkongruenz „wertungsfrei als Variante der Geschlechtsidentität“ zu beschreiben, wie die NZZ es tut.

Gegenbeispiele und „Detransitionierer“

Frühe oder sogar vorschnelle Diagnosen in Richtung einer Transidentität können also zu Behandlungen führen, unter deren Folgen die Betroffenen ein Leben lang leiden. Nicht wenige entscheiden sich sogar nach einer teilweisen oder vollständigen Transition für eine Rückkehr ins Geburtsgeschlecht. Die Zahl dieser „Detransitionierer“ steigt ständig. Für sie war der hier so neutral-positiv präsentierte Weg der Geschlechtsveränderung ein Fehler.

Meli S. beispielsweise lebte zehn Jahre lang als Mann, bevor sie zu ihrem Frausein zurückfand. Im Interview mit Zukunft CH erzählt sie, wie sie die Behandlung mit männlichen Hormonen empfand: „Zu Beginn war ich begeistert, das Testosteron wirkte schnell. Stimmbruch, Bartwuchs, die Fettumverteilung und der Muskelaufbau – alles fühlte sich toll an. Ich meinte, auf dem richtigen Weg zu sein.“ Doch nach und nach merkte sie, dass die Veränderung des Körpers nicht ihre zugrundeliegenden Probleme und inneren Konflikte löste. So rät sie heute anderen Betroffenen, sich in aller Ehrlichkeit mit sich selbst und dem eigenen Unwohlsein auseinanderzusetzen. Sie zieht das Fazit: „Ich bin heute überzeugt, dass viele Transitionen nicht stattfänden, wenn vorher die seelischen Verletzungen angegangen würden.“

Es bleibt zu hoffen, dass auch die Ärzte, die die neue Leitlinie verfasst haben, Patienten dazu ermutigen, das zu tun. Doch ihre oben zitierten Ansichten lassen anderes befürchten.

Das vollständige Interview mit Meli S. kann im nächsten Magazin von Zukunft CH nachgelesen werden. Es erscheint am 16. April 2024.