Der Frühling steht vor der Tür, die Natur erwacht zu neuem Leben. Die Tage werden länger, alles wird wieder heller. Ein guter Zeitpunkt, um die vielleicht schon aufgegebenen Neujahrsvorsätze noch einmal hervorzuholen und zu überprüfen. Denn diese Vorsätze haben wir ja ursprünglich aus gutem Grund gefasst. Was uns davon abhält, sie umzusetzen, ist oft ein kleines Wörtchen: eigentlich.

Von Ursula Baumgartner

Eigentlich müsste ich lernen. Eigentlich wollte ich ja immer ein Haustier. Eigentlich hatte ich vor, eine Diät zu machen. Eigentlich wollte ich schon immer Italienisch lernen. Eigentlich … So viele Dinge in unserem Leben werden mit diesem Beiwort relativiert. Aber was bedeutet das Wort „eigentlich“ eigentlich? Ein Internetlexikon erklärt: „Es hat etwas mit „eigen“ zu tun, also, „zu mir gehörig“, „originär“. Bin ich „eigentlich“, dann bin ich so, wie ich es meine, bei der Wortbedeutung, beim Ursprung. Echt.“

Doch andererseits hält es fest: „Die häufigste Verwendung findet „eigentlich“ aber heute als Ersatz für die Begriffe „sozusagen“, „gewissermassen“ oder „schon“, die meist eine Einschränkung oder Verneinung nach sich ziehen.“

Das „Aber“ im Gepäck

Taucht irgendwo ein „Eigentlich“ auf, ist meist das „Aber“ nicht weit. Beispiel oben: Eigentlich wollte ich eine Diät machen – aber dann hatte eine Kollegin im Büro Geburtstag und es gab Torte. Eigentlich müsste ich lernen – aber ich habe keine Lust und das Wetter ist zu schön. Eigentlich wollte ich heute Sport machen – aber ich bin zu müde. Hinter dem „Aber“ verbirgt sich also häufig eine Schwäche oder eine Bequemlichkeit.

Sehr viel schwerere andere „Aber“ erzählen eine traurige Lebensgeschichte. Beispiel: Ich wollte eigentlich Profisportler werden, aber dann hatte ich einen Unfall. Ich wollte eigentlich Kinder, aber es hat nicht geklappt. Manch ein anderes „Aber“ kann der Abschied von einem Kindheitstraum sein, der der Realität weichen muss. Beispiel: Ich wollte eigentlich einen Ponyhof aufmachen, aber davon kann ich meine Familie nicht ernähren. Ich wollte eigentlich einen Hund, aber ich habe im Alltag keine Zeit für ihn.

Noch einmal andere „Aber“ verstecken eine Angst, die Furcht, aufzufallen oder eine gewisse Kapitulation. Beispiel: Ich wollte mich eigentlich selbständig machen, habe aber Angst, dass ich es nicht schaffe. Ich wollte eigentlich Künstler werden, wollte aber meine Eltern nicht enttäuschen. Ich wollte eigentlich studieren, aber in unserer Familie sind alle Handwerker.

Unser tägliches „Eigentlich“

Wie viele „Eigentlichs“ halten uns persönlich davon ab, unser Leben in seiner ganzen Fülle zu leben? Wie viele Bedenken und wie viel Rücksichtnahme hindern uns, all unsere Talente zu nutzen und zu vermehren? Ist die Sorge, aufzufallen, aus der Reihe zu tanzen und eventuell zu scheitern, so viel grösser als die Aussicht, einmalige Erfahrungen zu machen?

Vielleicht sollten wir auch mal das Wort „scheitern“ neu überdenken. Ist jemand gescheitert, der den Mut hatte, sich selbständig zu machen, viel über sich und andere gelernt hat, vielen Menschen begegnete und letztlich doch zum Angestelltsein zurückkehrte? Ist nicht vielmehr der gescheitert, der sich all das eigentlich (!) immer trauen wollte, es nicht getan hat und jeden Morgen mit einem immer schwerer werdenden Eigentlich in der Aktentasche ins Büro geschlurft ist? Ist der gescheitert, der eine Ausbildung oder ein Studium abgebrochen hat, weil er gemerkt hat, dass er in diesem Beruf keine Erfüllung findet? Oder ist der gescheitert, der die Ausbildung beendet hat, obwohl sein Herz an etwas anderem hängt?

Welches „Aber“ ist es hier?

 Nehmen wir unsere Neujahrsvorsätze heraus und stauben sie ab. Und dann machen wir uns schonungslos daran, das „Aber“ hinter jedem „Eigentlich“ zu analysieren. Suchen wir die „Aber“ heraus, die eine Bequemlichkeit verbergen. Nennen wir diese Bequemlichkeit beim Namen – Trägheit, Genusssucht, Zurückscheuen vor Konflikten oder schwierigen Themen. Formulieren wir die Neujahrsvorsätze neu. Statt „Eigentlich wollte ich ja mehr Sport treiben“ können wir sagen „Um meine Trägheit zu bekämpfen, möchte ich mich mehr bewegen“. Motivierender als „Eigentlich wollte ich eine Diät machen“ ist „Weil mir meine Gesundheit wichtig ist, möchte ich mich gesünder ernähren“.

Vom „eigentlich“ zum „Eigentlichen“

Streichen wir das „eigentlich“ aus unserem Wortschatz und aus unserem Leben. Zu viele „Eigentlichs“ bergen die Gefahr, frustriert zu werden. Denn in der Summe lebt man dann ein Leben, das eigentlich (!) gar nicht das ist, was man leben möchte. Gehen wir zurück zum Eigentlichen, zu dem, was uns eigen ist, was uns ausmacht, und bringen das zum Leuchten. Denn sonst leben wir ein Leben für andere, ein Leben für die Umstände, eines, das unser Ureigenstes aussen vor lässt. Und das wäre doch eigentlich (!) schade.