Wer war Jesus? Was ist der Mensch? Die alten Fragen der Kirchenväter treten in säkularisierter Form wieder auf den Plan. Sind wir inmitten post- und transhumaner Allmachtsphantasien noch in der Lage, die Nachricht von der Menschwerdung Gottes in ihrer berührenden Konkretheit zu vernehmen?

Ein Kommentar von Dominik Lusser

Darstellungen des Jesuskindes in der Krippe sind seit Jahrhunderten fester Bestandteil des häuslichen und kirchlichen Weihnachtsschmucks. Sie werden in den unterschiedlichsten Materialien und künstlerischen Stilen gefertigt. Jede Region und Epoche kennt ihre traditionelle Krippe. Zu den berühmtesten Krippenfiguren zählen die südfranzösischen „Santons“ aus bunt bemaltem Ton. Viele von ihnen stellen Figuren aus der Provence dar und haben keinen direkten Bezug zur biblischen Weihnachtsgeschichte. So gibt es z.B. den Richter, die alte Frau in Tracht oder den Blinden mit dem Kind als Führer. Das Weihnachtsgeschehen und seine Botschaft werden so ins alltägliche Leben der Provence hineingeholt – ein Beispiel gelungener Inkulturation des Evangeliums, das an alle Menschen „guten Willens“ gerichtet ist.

In den letzten Jahren hat sich auch der politische Diskurs des Krippenmotivs bemächtigt. Zu Weihnachten 2018 beispielsweise wurde in der apulischen Kleinstadt Acquaviva delle Fonti auf dem Hauptplatz vor der Kirche die Heilige Familie als ein Flüchtlingspaar mit Kind dargestellt, das in einem Meer aus Plastikflaschen unterzugehen droht.

Unterschiedliche Deutungen und Vereinnahmungen des Jesuskindes bzw. der zentralen biblischen Aussage der Menschwerdung Gottes sind aber nicht erst ein Phänomen der jüngeren Vergangenheit. Sie sind so alt wie das Ereignis selbst, das die Philosophin Alma von Stockhausen als „Angelpunkt der Weltgeschichte“ bezeichnet. Weil das Gottesbild das Menschenbild eines Volkes prägt und die Kultur im Kult seinen Ursprung hat, kann die unerhörte Kunde der Menschwerdung Gottes und ihre Deutung an Wichtigkeit kaum überschätzt werden.

Jesus: abstrakt oder konkret?

Besonders in Erinnerung geblieben ist mir die Schilderung eines Theologieprofessors, dessen Vorlesung ich vor mehr als zehn Jahren besuchte. Der bekannte Spezialist für Patristik war in einem Frauenkloster auf eine Weihnachtskrippe gestossen, die Jesus mit den Augen eines Asiaten, den Lippen eines Afrikaners, der Hautfarbe eines Indios und den Haaren eines Skandinaviers darstellte. Der Dominikanerpater bewertete diese Darstellung im Kreis seiner Studenten zwar als gut gemeint, doch sei sie nicht nur in ästhetischer, sondern auch theologisch Hinsicht durchaus problematisch.

Ausgehend von diesem Multiethno-Jesuskindes erläuterte der Professor eine christologische Irrlehre, die in der Antike die Theologen beschäftigte: Gemäss dem christlichen Dogma hat der Sohn Gottes, als er in Jesus von Nazareth Mensch wurde, die menschliche Natur nämlich nicht als abstrakt-allgemeines Idealbild angenommen, wie manche Theologen vor dem Hintergrund der Ideenlehre Platons meinten, sondern ganz konkret und individuell. Jesus wurde nicht zugleich als Peruaner, Chinese, Nigerianer und Schwede geboren, sondern einzig und allein als Jude. Und – so würde ich heute noch ergänzen – als Junge, und nicht etwa zugleich auch als Mädchen oder gar geschlechtslos.

Die christologischen Streitigkeiten der Antike spielen in unserer postchristlichen Welt kaum mehr eine Rolle. Und doch mischen heute ganz ähnliche Probleme Politik und Gesellschaft auf. Dabei geht es zwar nicht mehr um die Menschheit Christi, aber um den Menschen schlechthin. Die alten Deutungsfragen um das Humane treten in säkularisierter Form wieder auf den Plan.

Der Philosoph Alexander Grau spricht beispielsweise von einem menschenfeindlichen „linken Hyperhumanismus“, in dessen Zentrum der Gleichheitsgedanke stehe: „Da (…) alle Menschen im ideellen Sinne gleich sind, ist jede Form faktischer Ungleichheit zu beseitigen. Das Resultat: Menschen werden nicht als reale Menschen behandelt, sondern als Konstruktionen, als Sinnbilder oder Verkörperungen einer abstrakten Menschlichkeit.“ Das angestrebte Ziel ist der Einheitsmensch in einer unterschiedslosen Einheitskultur.

Was man gut und gerne als humanistische „Irrlehre“ bezeichnen kann, ist Grau zufolge ein „Kampf gegen das Eigene und das Einzigartige“. Ein krasser Gegensatz zum christlichen Humanismus, wie mir scheint: Durch den Glauben an die konkrete Menschwerdung Gottes hat jede individuelle menschliche Existenz eine ungeahnte Aufwertung erfahren. Wie sich dies in der westlichen Welt über die Jahrhunderte kulturell ausgewirkte, hat Larry Siedentop in seinem monumentalen Werk „Die Erfindung des Individuums – Der Liberalismus und die westliche Welt“ (2015) eindrücklich aufgezeigt.

Gute Schöpfung oder Trick des Demiurgen?

Ebenfalls aus der christologischen Debatte heraus konnte sich der Personenbegriff als Kernbegriff der christlichen Anthropologie etablieren. Dieser beinhaltet eine Absage sowohl an den Kollektivismus, wie auch an jede Form von Nominalismus und Hyperindividualismus. Auch wenn das wahrhaft Wirkliche immer individuell ist, sind doch alle Menschen durch eine gemeinsame Artnatur verbunden, die im Leibe von Generation zu Generation weitergegeben wird. Die Person ist nach der berühmten Definition des Boethius eine „individuelle Substanz rationaler Natur“, wobei der Terminus „rational“ auf die sinnengebundene, diskursive Erkenntnisweise des Menschen hinweist und folglich den Leib als konstitutiv für das Personsein mit einschliesst. Im Gegensatz zum Gnostizismus, der im cartesianischen Dualismus in der Moderne fortlebt, hat das Christentum niemals die materielle Wirklichkeit zu Gunsten immaterieller bzw. göttlicher Wirklichkeit negiert und das menschliche Individuum nie auf einen autonomen Geist reduziert.

Die antiken und mittelalterlichen Gnostiker verwarfen aufgrund ihrer radikalen Zweiteilung des Wirklichen in einen guten Geist und eine böse Materie die Lehre von der Menschwerdung. Ihrer doketischen Lehre zufolge hatte Gott in Jesus nur einen Scheinleib angenommen. Die Materie und ihre Ordnung inklusive Sexualität und Fruchtbarkeit galt ihnen als Trick des Demiurgen, um den Geist in der Materie gefangen zu halten. Ganz anders das Christentum: Ihm zufolge steht die göttliche Gnade nicht im Gegensatz zur Natur. Die Gnade hebt diese nicht auf, sondern setzt sie voraus und vervollkommnet sie. Das Kommen Gottes als Mensch wird als grossartige Bestätigung der natürlichen Ordnung gesehen, die in der Menschheit des neuen Adam in ursprünglicher Schönheit wiedererstrahlt.

Es beruht daher auf einem Missverständnis, den christlichen Heilsuniversalismus so zu deuten, als wäre in Christus die menschliche Natur – und was aus ihrer kulturellen Entwicklung in Raum und Zeit folgt – einfach aufgehoben. Wenn Paulus im Galaterbrief (3, 28) schreibt, dass es keine Juden und Griechen, und auch keine Männer und Frauen mehr gäbe, sondern dass wir in Christus alle eins seien, so ist dieses Wort zuallererst auf die Gnade und die Berufung zum Heil zu beziehen. Gnostizistisch angehauchte feministische Paulus-Interpretationen, die dem Völkerapostel die Aufhebung Geschlechtsunterschiede unterstellen, gehen am Wesentlichen vorbei.

In Zeiten, in denen der scheinbar ewige Widersacher des Christentums, der Gnostizismus, im Gewand von Gender-Theorie und Transhumanismus eine Renaissance erlebt, sind starke Gegenpositionen gefragt, welche die Würde des menschlichen Leibes und die diesem durch die Seele eingeprägte Ordnung hochhalten und verteidigen. In wieweit christologische Standpunkte in der Auseinandersetzung mit dem „gnostischen Liberalismus“ (Robert P. George) unserer Tage von Bedeutung sein können, hängt natürlich vom Glauben ab. Christen jedenfalls tun gut daran, sich zu erinnern, dass der Apostel Johannes im Prolog seines Evangeliums ganz bewusst alle Mühe darauf verwendet, die konkret-fleischliche Art der Menschwerdung Gottes unmissverständlich herauszustreichen. „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ (Joh 1, 14)

Körperkult und Leibvergessenheit

Der materialistisch-hedonistische Körperkult unserer Kultur darf uns nicht über deren Leibvergessenheit hinwegsehen lassen. Schönheitschirurgie, Geschlechtsumwandlungen, künstliche Fortpflanzung, Leihmutterschaft und Upgrades fürs Gehirn messen der Leiblichkeit keine Würde bei, sondern erniedrigen sie zur Manipuliermasse egoistischer Wünsche respektive zur Bühne, auf der sich der vollständig autonom gedachte Geist nach Belieben inszeniert. Die Gegenwartskultur orientiert sich immer stärker an dem von Julian Huxley, dem Vordenker des Transhumanismus postulierten Ideal, das Säugetier in uns zu überwinden, um immer mehr „Mensch“ zu werden. Dem setzt der Philosoph Fabrice Hadjadj treffend entgegen: „Um weiter an den Menschen glauben zu können, muss man daran glauben, dass er von Gott erschaffen wurde. Und dass Gott Mensch geworden ist.“ Das Christentum verehre den Menschen als Gottheit, rufe ihm aber – oder vielleicht gerade deswegen, wie mir scheint – auch permanent die Bedingungen der einfachen menschlichen Existenz in Erinnerung.

Der Humanismus, der Europa frei und menschenfreundlich gemacht hat, funktioniert nicht mehr. Wir reden unentwegt von Menschenrechten und kreieren immer neue. Dabei wissen wir, wie Rémi Brague sagt, gar nicht mehr, was ein Mensch ist. Sinnleere und tiefe Verzweiflung, die durch allerlei Aktivismus überspielt werden, zeichnen das Lebensgefühl vieler Menschen auf dem alten Kontinent. Wir sind Meister im Bedienen glatter und kühler Bildschirmoberflächen, doch schrecken wir davor zurück, unser Menschsein bejahend zu umfangen. Ausdruck davon ist die steigende Zahl von Menschen, die kinderlos bleiben. Dabei konfrontieren uns gerade Kinder, wie Hadjadj sagt, „mit der Zukunft, den höchsten und letzten Dingen“: „Mit einem Kind feiert man Geburtstag. Es fördert (…) dieses tiefe Bewusstsein: Es ist gut, dass es uns gibt.“

Ist unsere Welt noch in der Verfassung, die Weihnachtsbotschaft in ihrer berührenden Konkretheit zu vernehmen? „Und sie (Maria) gebar ihren erstgeborenen Sohn, hüllte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe.“ (Luk 2, 7) Das ist das volle menschliche Leben, das – so lehrt es ebenfalls der christliche Glaube – durch die leibliche Auferstehung zur Ewigkeit berufen ist. Etwas Genialeres kann sich auch das Silicon Valley nicht ausdenken, das davon träumt, dem Menschen durch ein Upload seines Gehirns „Unsterblichkeit“ in einer Cloud zu verschaffen.

Angesichts solcher Allmachtsphantasien, die laut dem Juristen Grégor Puppinck einem „desinkarnierten Machtwillen“ einspringen, gilt es, „dessen exaktes Gegenteil zu schützen und zu kultivieren: die inkarnierte Liebe.“ Dabei ist es tröstlich zu wissen: Auch das Jesuskind ist weder virtuell noch ein Cyborg, sondern wie wir – wie Gott selbst – aus Fleisch und Blut.

 

Dieser Text erschien zuerst in der Tagespost.