Nach Umwandlung des Hagia-Sophia-Museums, der ehemaligen Sophienkirche, zur Moschee im Juli 2020 hat nun auch der Erlass von Präsident Recep Tayyip Erdogan am 20. August 2020 zur Aufhebung des musealen Status der einstigen Kirche und späteren Moschee „Chora“ (Kariye) an den alten Konstantinopler Stadtmauern heftige internationale Kritik ausgelöst.

Heinz Gstrein, Orientalist

Das Gotteshaus beherbergt einen kompletten Zyklus der schönsten byzantinischen Mosaiken und Fresken mit biblischen Darstellungen. Diese müssten nach jahrzehntelanger Freilegungsarbeit mit Umwandlung zur Moschee wieder verdeckt werden. Dagegen haben schon der Ökumenische Patriarch Bartholomaios I. von Konstantinopel, kirchliche Persönlichkeiten aus der russischen, serbischen und griechischen Orthodoxie sowie der evangelischen Welt sowie das amerikanische State Department protestiert.

Auch Istanbuls Christen melden sich mit einem Appell an Erdogan zu Wort, seine Entscheidung zu revidieren. In einer Verlautbarung der „Ökumenischen Vereinigung der Konstantinopler“ heisst es: „Das stellt nicht nur die Missachtung eines Weltkulturerbes dar, es öffnet auch die Büchse der Pandora, indem der Eindruck erweckt wird, dass jeder in seinem Land nach eigenem Gutdünken mit Denkmälern verfahren kann, die der gesamten Menschheit gehören“.

Museum weg, Arbeitsplätze weg

Die Angestellten des bisherigen Kariye-Museums demonstrieren auf seinem Vorplatz mit Transparenten, auf denen sie neue Arbeitsplätze fordern. Solche waren auch den mit 24. Juli 2020 entlassenen Führern und Wächtern, dem Kassen- und Instandhaltungspersonal der Hagia Sophia versprochen worden. Doch hat sich für diese keine neue Beschäftigung gefunden, da es in Istanbul immer weniger Museen gibt.

An vielen der zahlreichen ausländischen Kulturinstitute am Bosporus herrscht überhaupt der Eindruck vor, dass die Moscheeisierungen von Hagia Sophia und Kariya Camii in Istanbul nur Anfang vom Ende einer „Museumsepoche“ bedeuten. Diese war für Atatürk und seine junge „Türkische Republik“ kennzeichnend, die alles Osmanische, Islamische, aber auch Byzantinische und Antike aus dem Volksleben in museale Konservierung zu verbannen suchte. Typisch für diese Ära wurde die weitgehend von ausländischen Architekten erbaute neue Hauptstadt Ankara. Der Schweizer Ernst Arnold Egli (1893–1974) zeichnete sich dabei überhaupt als Wegbereiter der türkischen Moderne aus. Die alte Sultansresidenz Istanbul wurde, was ihre schönsten Moscheen und Paläste betraf, eine Museumsstadt.

Jetzt wolle Erdogan das Rad wieder herumdrehen. Von den beiden Palastmuseen Dolmabahce am Bosporus und dem darüber gelegenen Yildiz hat er schon länger zum eigenen Residieren Besitz ergriffen. Yildiz war sein bevorzugter Schauplatz für Treffen mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, als beide noch in besserem Einvernehmen standen. Es sei wohl nur mehr eine Frage der Zeit, bis der Staatschef sich auch das berühmte Palastmuseum von Topkapi zu Repräsentationszwecken aneignet.

Dieser sich anbahnenden Flut von Rück- und Umwandlungen dürfte nur das Heeresmuseum im Stadtteil Harbiye entgehen. Es dokumentiert die türkische Militärgeschichte aktuell von den Janitscharen bis zu den jüngsten Operationen in Syrien und Libyen. Die beliebte Soldatenkapelle „Mehter“, deren Auftritte auf der Museumstreppe viele Istanbuler Familien anlocken, wird daher noch lang nicht ausgespielt haben.

Das eigentliche Ziel Erdogans: der islamische Staat

Solang es um Istanbuls Hagia Sophia ging, stand das Bestreben Erdogans im Vordergrund, durch Wiederherstellung ihres ehemaligen Status als osmanische Reichsmoschee und Symbol der türkischen Eroberung Konstantinopels seiner eigenen Herrschaft Glanz und Gloria zu verleihen. Als Vorbereitung darauf waren eine ganze Reihe kleinerer Sophienmuseen von Enez im äussersten Westen bis zum osttürkischen Trabzon in Moscheen verwandelt worden.

Die politisch uninteressante, doch kunsthistorisch umso folgenschwerere Moscheeisierung der Chora-Kirche verrät Erdogans eigentliche, extremislamische Zielsetzung: Es geht ihm gar nicht um eine osmanische Renaissance, sondern die rücksichtslose Durchsetzung eines islamischen Staates. Der eigentliche Osmanisierer Ahmet Davutoglu, Aussenminister und zuletzt Ministerpräsident in Ankara, hat schon 2016 das Handtuch geworfen und sich von seinem langjährigen Herrn und Meister Erdogan abgesetzt. Als es bei diesem keine Zweifel mehr daran gab, dass seine eigentlichen Gesinnungsgenossen die von ihm unterstützte Hamas in Gaza und sogar die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) sind, der die Türkei sogar Waffen zukommen liess.

Wenn Erdogan heute einstige Kirchen, die einmal zur Moschee gemacht waren, wieder als solche in Anspruch nimmt, ist das nicht osmanisches, sondern strikt islamisches Religionsrecht in seiner schärfsten Auslegung. In Ägypten hatten die ebenfalls mit Erdogan verbündeten Muslimbrüder während ihrer kurzen Herrschaft 2012/13 in koptische Kirchen über Nacht Miniaturmoscheen hineingestellt, sie damit islamisiert, in Anspruch und gewalttätig in Besitz genommen. In der Türkei werden von Erdogans mit der Chora-Kirche verschärftem Moscheeisierungskurs zahlreiche zweckentfremdete oder verfallene Kirchen in Siedlungsgebieten der einstigen, in den frühen 1920er-Jahren vertriebenen griechisch- und georgisch-orthodoxen Minderheiten betroffen.

Türkeiweite Moscheeisierungswelle

Angesichts der grossen Zahl von orthodoxen Wirtschaftsflüchtlingen, aber auch Touristen aus dem ehemaligen Ostblock sowie Ex-Jugoslawien und sogar Griechenland in der bis vor kurzem wirtschaftlich noch florierenden Türkei werden solche verlassene Kirchen zunehmend vom Patriarchat Konstantinopel zurückgekauft, renoviert und wieder ihrer Bestimmung übergeben. Diese Entwicklung ist Erdogan ein Dorn im Auge und nach islamischem Recht unzulässig. Nach diesem, der Scharia, dürfen aufgegebene Kirchen – und auch Synagogen – nur als Moscheen wiederhergestellt werden. Kirchliche Beobachter in Istanbul rechnen damit, dass bald der Chora-Kirche eine ganze türkeiweite Moscheeisierungswelle folgen wird. Erdogan will sich damit den Segen Allahs für seine machtpolitischen Expansionspläne in Nahost, dem Mittelmeer und Nordafrika sichern.