Seit dem Ausbruch der Corona-Krise hält SARS-CoV-2 die Welt und unser Land in Atem. Nach anfänglichem Verständnis für die durchaus massiven Eingriffe des Bundesrats in die allgemeinen Freiheitsrechte macht sich mittlerweile auch deutliche Kritik breit. Eine Analyse.[1]

Von Ralph Studer

An seiner Sitzung vom 12. Mai 2021 hat der Bundesrat entschieden, allen Menschen den Zugang zum Covid-Zertifikat zu ermöglichen. Dieses Vorhaben des Bundesrats soll am 11. Juni 2021 in die Konsultation geschickt werden. Der Entscheid ist für den 18. Juni 2021 vorgesehen.

Gemäss Bundesrat sollen zukünftig drei Bereiche unterschieden werden:

  1. Im „grünen Bereich“ sind Zertifikate explizit ausgeschlossen. Beispiele sind private und religiöse Veranstaltungen, öffentlicher Verkehr, Läden, Arbeitsplatz und Schulen.
  2. Im „orangen Bereich“ ist grundsätzlich das Zertifikat nicht vorgesehen, ausser „wenn die epidemiologische Lage es erfordert und die Überlastung des Gesundheitswesens droht.“ Hierunter fallen z.B. Restaurants, Veranstaltungen, Freizeit-, Sport- und Unterhaltungsbetriebe, Sport- und Kulturvereine oder der Besuch von Spitälern und Heimen.
  3. Im „roten Bereich“ ist das Zertifikat zwingend vorgeschrieben. Dies gilt z.B. für Grossveranstaltungen.

Was wären die Folgen eines solchen Zertifikats? Sollte dieser bundesrätliche Plan tatsächlich umgesetzt werden, werden Menschen, welche sich aus nachvollziehbaren Gründen nicht impfen lassen können oder wollen bzw. einen Test ablehnen, benachteiligt. Eine „Zweiklassengesellschaft“ würde Realität. Die Teilhabe am sozialen Leben und die Ausübung der Freiheitsrechte würden fortan in verschiedenen Lebensbereichen von diesem Zertifikat abhängen und ob „geimpft, „genesen“ oder „negativ getestet“ darauf steht. Selbst Menschen, die schlicht und einfach gesund sind, könnten dadurch von bestimmten Dienstleistungen und Einrichtungen ausgeschlossen werden. Somit würde der indirekte Test- und Impfzwang in der Schweiz Realität.

Neues Konzept: Privilegien statt Freiheitsrechte

Nicht nur aus rechtsstaatlicher Sicht sind diese geplanten Covid-Zertifikate hochproblematisch. Unsere freiheitlich-demokratische Ordnung basiert wesentlich auf den Grundrechten des Einzelnen. Grundrechte sind die von der Verfassung und von internationalen Menschenrechtskonventionen gewährleisteten grundlegenden Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat. Träger dieser Rechte ist der Einzelne. Sie schützen elementare Rechte des Individuums. Dabei haben elementare Menschenrechte vorstaatliche Bedeutung, d.h. sie basieren auf dem Naturrecht, das jedem Einzelnen diese Rechte um seines Menschseins willen zugesteht.

Mit dem Einführen von Covid-Zertifikaten verabschiedet sich der Bundesrat von diesem grundlegenden Ansatz unserer Staats- und Rechtsordnung und unserer Demokratie. Die Freiheitsrechte werden abgeschafft und durch Privilegien ersetzt, die an bestimmte Voraussetzungen geknüpft sind. Führt der Staat Privilegien ein, schafft er die Freiheit des Einzelmenschen ab, schafft Diskriminierungen und benachteiligt gerade die Menschen, die sich für ihre Freiheitsrechte einsetzen. Damit überschreitet der Staat seine rechtmässige Autorität, schafft gravierende Ungerechtigkeiten und die Voraussetzungen für eine gesellschaftliche Spaltung und Unfrieden. Der Staat verletzt auf diese Weise seine grundlegenden Aufgaben, sich für das Gemeinwohl eines Landes einzusetzen.

Angesichts dieser Entwicklung ist davon auszugehen, dass dies nur ein weiterer Zwischenschritt ist. Was folgt danach? Wird es in absehbarer Zeit eine weitere Ausdehnung der Anwendung der Zertifikate geben? Weitere Benachteiligungen, die bis anhin noch undenkbar erschienen?

Gegen Verfassung und Gesetz

Dass der Bundesrat mit seinen Massnahmen gegen bestehendes Recht verstösst, wäre nicht das erste Mal. Bereits im April 2021 kam ein Rechtsgutachten der Anwaltskanzlei Bratschi in Zürich, welches insbesondere die Rechtmässigkeit der Restaurantschliessungen beurteilte, zum Schluss, dass der Bundesrat mit diesen Schliessungen geltendes Gesetzes- und Verfassungsrecht verletzte.[2]

Gemäss Gutachten hatte sich der Bundesrat einseitig auf epidemiologische Kriterien und Richtwerte abgestützt, während er zu Unrecht die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen und Folgen wie Zusammenleben, sozialen Zusammenhalt, Gesundheit im umfassenden Sinn (inkl. psychische Gesundheit), Volksfinanzen usw. unberücksichtigt liess. Mit diesem Vorgehen habe der Bundesrat in unverhältnismässiger Weise in die Freiheitsrechte des Einzelnen, insbesondere in die Wirtschaftsfreiheit, eingegriffen.

Darüber hinaus ist das Gutachten auch von allgemeiner Bedeutung. Es untersuchte die Rechtmässigkeit der Kriterien und Richtwerte des Bundesrats. Inzidenzzahl, R-Wert und Todesfallzahlen erweisen sich in der verwendeten Form als ungeeignet, so das Fazit des Gutachtens. Die Inzidenzzahl beispielsweise sage „nichts über die Grösse des mit einer Ansteckung verbundenen möglichen Schadens“. Der R-Wert sei willkürlich steuerbar (mehr Testungen, mehr Fälle) und nur eine Schätzung, die im Nachhinein immer wieder korrigiert worden sei. Zudem hätten sich, selbst als der R-Wert über 1 lag, „keinerlei negative Auffälligkeiten bezüglich der Indikatoren Hospitalisation, Intensivbettenbelegung, Todesfällen und Inzidenzen“ ergeben. Die absolute Todesfallzahlen lasse gemäss Gutachten noch keine Aussage zu, „ob in einem bestimmten Zeitraum in einer bestimmten Altersgruppe auch eine Über- oder Untersterblichkeit vorliegt“. Das Gutachten schlägt in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Sicht die Arbeitslosenquote pro Branche oder die Anzahl der Hospitalisierungen als Richtwerte vor, in epidemiologischer Sicht Über-/Untersterblichkeit basierend auf einer altersspezifischen Sterblichkeit.

Unabhängig von diesem Gutachten sind die bundesrätlichen Massnahmen seit längerem rechtsstaatlich bedenklich. So hat Beni Würth, Ständerat des Kantons St. Gallen, im März 2021 zu Recht betont[3], dass Einschränkungen in die Grundrechte aufzuheben oder durch mildere Massnahmen zu ersetzen seien, sobald die Notwendigkeit nicht mehr gegeben sei. Das sei nicht ein Gnadenakt des Bürgers, sondern ein verfassungsmässiger Anspruch der Bürgerinnen und Bürger. Das heisst z.B.: Die Schliessung der Restaurants ist begründungspflichtig, nicht die Öffnung. Bundesrat und teilweise auch die Kantonsregierungen scheinen diese wesentlichen Grundsätze aus den Augen verloren zu haben.

Fehlende Verhältnismässigkeit

Von Beginn der Pandemie konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Prinzip der Verhältnismässigkeit, welches verfassungsrechtlich geschützt ist, kaum eine Rolle in den Überlegungen des Bundesrats spielt. Zentrale Fragen, ob die angestrebten Wirkungen nicht auch mit weniger massiven Massnahmen, mit weniger Kosten hätten erreicht werden können, war kaum ein Thema, auch nicht in den Medien.

Wie Beck/Widmer zurecht hinweisen,[4] verursachten die Massnahmen wie der Shutdown neben hohem finanziellem Aufwand auch viele immaterielle Schäden und verursachen sie immer noch. Bis heute ist kaum untersucht und wird kaum thematisiert, welche gesundheitlichen Schäden das lange Maskentragen bei Kindern, die in ihrer Entwicklung stecken, und Erwachsenen verursacht, welchen Entwicklungsdefiziten Babys ausgesetzt sind angesichts einer Welt voller Masken. Bedenken wir auch das einsame Sterben vieler Menschen (auch ohne Virus) in Spital und Pflegeheimen, das Bildungsdefizit von Schülern usw. Dieser verfassungsmässig geschützte Grundsatz der Verhältnismässigkeit wäre auch vom Bundesrat einzuhalten.

In welche gefährliche Richtung die zukünftige Entwicklung gehen könnte, zeigt ein aktuelles Beispiel aus dem Kanton Zürich. Die Zürcher Rehakliniken wollten nur noch „vollständig geimpfte BesucherInnen“ in ihren Kliniken zulassen.[5] Die Frau eines dortigen Schlaganfallpatienten und drei Zürcher Kantonsräte hatten sich gegen diese Regelung zur Wehr gesetzt. Mittlerweile sind die Zürcher Rehakliniken zurückgerudert und erlauben u.a. auch Besuche von Personen mit negativem PCR-Test-Ergebnis.

Impfung – Rettung der Menschheit?

„Ein Herz für uns alle“: Mit dieser Botschaft startete das Bundesamt für Gesundheit (BAG) am 17. Mai 2021 seine neue Impfkampagne. Mit dem Zugang zur Impfung für die breite Bevölkerung steigen die Aussichten auf eine Rückkehr zur Normalität, so das BAG. Diese BAG-Kampagne folgt damit dem Kurs, den auch die Verlautbarungen des Bundesrats zu entnehmen waren: Ohne Impfen gebe es kein Zurück in die Normalität. Von Alternativen wird nicht berichtet. Ist die Impfung tatsächlich das Allheilmittel für die gegenwärtige Krise, wie verschiedene Kreise aus Politik und Medien immer wieder betonen?

Da dieser Aspekt bereits detailliert von verschiedenen Experten analysiert wurde, sei an dieser Stelle auf den Artikel von Dr. med. Daniel Beutler verwiesen: „Impfung gegen COVID-19 – eine kritische Sicht“.

Heimbewohner leiden unter den Massnahmen

Wie unlängst das St. Galler Tagblatt[6] verlauten liess, stehen die Betten in vielen Alters- und Pflegeheimen leer. Die meisten Betagten fürchten sich, so der Artikel, vor Einsamkeit, weil sie in den Altersheimen ihre Familienmitglieder nicht sehen und auch mit anderen Heimbewohnern nur unter strikten Regeln Austausch haben können. In die gleiche Kerbe schlägt auch ein Artikel des K-Tipps, in dem berichtet wird, die Heimbewohner hätten es satt, ständig Masken zu tragen.[7] Viele ältere Menschen wurden aufgrund der Corona-Massnahmen nicht nur in ihrem sozialen Leben teilweise massiv eingeschränkt, sondern ihre Gesundheit verschlechterte sich zusehends und sie verloren ihren Lebenswillen.

Sind diese Corona-Massnahmen wirklich zum Schutz und im Sinne der älteren Menschen? Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Wohlbefinden der älteren Menschen teils aus den Augen verloren wurde. Am Anfang der Pandemie hiess es stets: Die Massnahmen werden zum Schutz der verletzbaren älteren Menschen getroffen. Doch wollen die älteren Menschen diese Art von „Schutzmassnahmen“ überhaupt? Interessiert sich der Staat noch dafür, was die älteren Menschen tatsächlich wollen? Die WHO definierte den Begriff „Gesundheit“ im Jahre 1946 wie folgt: „Gesundheit ist ein Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen.“ Cynthia Fleury, Philosophie-Professorin sagt zu Recht: „Man muss sich bewusst sein, dass das Leben keine rein biologische Angelegenheit ist. Es gibt auch ein soziales Leben, ein wirtschaftliches Leben und ich befürchte, dass die Strategie, die dem biologischen und körperlichen Leben den absoluten Vorrang eingeräumt hat, auf den anderen Lebensebenen noch sehr viel zerstörerische Auswirkungen haben wird.“[8]

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese Massnahmen viel Leid gerade bei den besonders gefährdeten Menschen verursacht haben. Beziehen wir gerade auch die älteren, betroffenen Menschen in einen gesellschaftlichen Dialog ein, denn letztlich trieb die Sorge um diese Menschengruppe den Bundesrat zum Einschreiten an. Doch dabei dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass wir verschiedene Interessen (vgl. Ausführungen im Rechtsgutachten) berücksichtigen müssen und ein geeignetes Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Gesundheit, der Verhinderung eines ökonomischen und sozialen Bruchs und der Achtung der Menschenrechte herzustellen ist.[9]

Strategiewechsel

Die bisherigen Massnahmen des Bundesrats sind nicht alternativlos. Es ist an der Zeit, über Alternativen zu diskutieren, dass ein öffentlicher Diskurs stattfindet, bei dem nicht nur epidemiologische Aspekte, sondern wirtschaftliche und gesellschaftliche Punkte mitberücksichtigt werden und die bisherigen Richtwerte wie Inzidenzzahlen, R-Wert usw. einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Prüfenswerte Vorschläge finden sich im Rechtsgutachten von Bratschi.

Wir sollten uns letztlich auch fragen, v.a. im Hinblick auf die Zukunft: „Hätte der psychische Gesundheitszustand der Bevölkerung nicht auch mit weniger finanziellem Aufwand und weniger Beeinträchtigung des psychischen und sozialen Gesundheitszustands und mit nicht so grossen Kollateralschäden (unbeabsichtigte Nebenwirkungen in Wirtschaft, Bildung, Sport und kirchlichem Leben) geschützt werden können?“[10] Sind diese Impfungen wirklich das richtige bzw. einzig richtige Mittel? Stellen wir uns auch den Fragen nach der Sinnhaftigkeit und Verhältnismässigkeit der Massnahmen insgesamt.

Hinterfragen wir auch diese für ältere Menschen teilweise unwürdigen „Schutzmassnahmen“ auf ihre Sinnhaftigkeit. Nicht Vereinsamung und Isolation, sondern Teilhabe am sozialen Leben, Austausch mit den Lieben usw. schaffen Lebensfreude und fördern den Lebenswillen. Sorgen wir dafür, dass die älteren Menschen wieder in Würde leben können. Es braucht zudem auch eine Rückbesinnung auf Werte wie Freiheit, Eigenverantwortung und Verhältnismässigkeit, die unser Land über viele Jahrhunderte geprägt und ausgemacht haben. Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung basiert auf Grundrechten, die dem Einzelnen um des Menschseins Willen zustehen. Grundrechte sind keine Privilegien, die an bestimmte Voraussetzung wie ein Covid-Zertifikat geknüpft werden können. Die Freiheit und der soziale Frieden in einem Land sind wertvolle Güter, die auch weiterhin gewahrt bleiben müssen.

[1]Die Coronakrise berührt viele Aspekte des menschlichen Lebens. Im folgenden Artikel kann nur eine kleine Auswahl getroffen werden.

[2] Vgl. 2021-04-14_-_Rechtsgutachten_IHA_LBU.pdf (bratschi.ch) (abgerufen am 27.5.2021).

[3] Vgl. Artikel im St. Galler Tagblatt „Pandemie und Demokratie beissen sich“ vom 3.3.2021.

[4] Beck/Widmer, Buch „Corona in der Schweiz“, Luzern 2020, S. 26.

[5] Vgl. Artikel „Diskriminierung von Ungeimpften in Zürcher Rehakliniken sorgt für Aufsehen“ vom 21.5.2021 (abgerufen am 27.5.2021).

[6] Vgl. Artikel „In den Heimen stehen Betten leer“, in St. Galler Tagblatt vom 15. Mai 2021.

[7] Vgl. Artikel „Behörden-Chaos auf Kosten der Betagten“, in: K-Tipp Nr. 8, 21. April 2021.

[8] Vgl. NZZ vom 25.5.2020.

[9] Beck/Widmer, Corona in der Schweiz, S. 24.

[10] Beck/Widmer, Corona in der Schweiz, S. 10.