Sechs Monate nach seiner Explosion war die schwerwiegendste Folge des Coronavirus bisher weder gesundheitlicher noch wirtschaftlicher, sondern psychologischer Natur, schreibt der italienische Historiker Roberto die Mattei in einem Beitrag unter dem Titel „Das Coronavirus und die neue Welt-Unordnung“.

Das Essay auf katholisches.info, in dem der Autor die Folgen der Corona-Krise in eine geschichtstheologische Perspektive einzuordnen versucht, enthält auch spannende Aspekte für eine säkulare Leserschaft. So etwa di Matteis Überlegungen zur geistigen Verwirrung, die das Virus hinterlassen hat, was der Historiker so beschreibt. „Niemand weiss, was er denken soll, und oft treten gegensätzliche Gedanken auf wie bei kognitiven Dissonanzen.“

Surft man durchs Internet oder blättert in den Zeitungen, wird man leicht fündig nach Indizien, die dafürsprechen, dass Corona auch als psychologisches Phänomen erhebliche Dimensionen anzunehmen beginnt. Medienberichten zufolge machen sich auch Schweizer Psychologen Sorgen. „Seit den Sommerferien erlebe ich in der Praxis einen Ansturm an Anfragen“, sagte Yvik Adler, Co-Präsidentin der Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen, gegenüber bluewin.ch. Das sei für diese Jahreszeit untypisch. Thomas Knecht, Leitender Arzt des Psychiatrischen Zentrum Appenzell Ausserhoden, macht ebenfalls auf die psychischen Folgen aufmerksam, welche das Coronavirus auf gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene ausgelöst hat. Die neuen Umstände führten zu einem Lebensstil, der nicht in allen Teilen menschengerecht sei und somit zu Anpassungsstörungen führen könne. Solche könnten sich, wie er gegenüber bluewin.ch sagte, als Depression, Angststörung, Hypochondrie oder auch als Zwangsstörung mit krankhaftem Vermeidungsverhalten (Ansteckungsangst) äussern. Die psychologische Forschung, was Corona mit Mensch und Gesellschaft anstellt, steckt verständlicherweise noch in den Kinderschuhen. Christoph Correll von der Charité Berlin, der gemäss eines Berichts der „Berliner Zeitung“ ein Studienprojekt zu den Auswirkungen von Corona auf Körper und Seele leitet, befürchtet aber schon jetzt, dass es vermehrt zu Depressionen, Hoffnungslosigkeit, Sucht und Suizidversuchen kommen wird – besonders bei psychisch Vorerkrankten. „Die dritte Welle bei Corona ist womöglich die der psychischen Erkrankungen“, erklärt der Psychiater.

Verlust gemeinsamer Wahrnehmungsmuster

Die psychologischen Folgen von Corona zeigen sich jedoch nicht nur auf dem Feld psychischer Erkrankungen. Corona scheint ebenso ein sozialpsychologisches Phänomen zu sein, das die Denk- und Handlungsweisen der Menschen beeinflusst und die Gesellschaft tief verändern könnte. Für seine These, am gravierendsten seien bislang die psychologischen Folgen von Corona, bezieht sich die Mattei auf den Soziologen Luca Ricolfi. Dieser habe in einem aufschlussreichen Artikel in der römischen Tageszeitung „Il Messaggero“ vom 5. September 2020 geschrieben, dass der Boden, auf dem heute die radikalsten Veränderungen stattfänden, die Art und Weise sei, wie unser Verstand arbeite.

Die offensichtlichste Veränderung, so Ricolfi gemäss di Mattei, sei die Unsicherheit, die nicht nur in der Schwierigkeit einer Zukunftsplanung, sondern in einem „allgemeinen Zustand der mentalen Anarchie“ bestehe. Das von Covid-19 ausgelöste Regime der mentalen Anarchie sei gefährlich für den sozialen Zusammenhalt, weil das soziale Leben auf gemeinsamen Regeln und gemeinsamen Wahrnehmungsmustern der Wirklichkeit beruhe. Gleichzeitig beeinträchtige es das psychologische Gleichgewicht des Einzelnen, weil – so Ricolfi  – „eine Welt, in der jeder sieht, was er sehen will, ohne Bezug zu dem, was andere sehen, in hohem Masse beunruhigend, konfliktgeladen und destabilisierend ist“.

Hoffnung oder Verzweiflung?

„Corona ist ein tückisches, trügerisches, wandlungsfähiges Virus, das manche in Angst und Schrecken versetzt und ihre Kräfte lähmt. Bei anderen zerstört es das Gleichgewicht und lässt sie glauben, dass es gar nicht existiere“, resümiert di Mattei. Seine anschliessende theologische Deutung dieser Corona-Alltagserfahrungen vermag auch ein Nichtgläubiger zumindest soweit nachzuvollziehen, als er anerkennen muss, dass die Perspektive auf ein Jenseits und eine göttliche Vorsehung in bewegten Zeiten einen sicheren Halt zu geben oder gar vor Verzweiflung zu bewahren vermag. Die Mattei schreib dazu:

„Sich auf die göttlichen Vorsehung zu verlassen, ist in diesem Moment besonders notwendig, um zu widerstehen, ohne die übernatürliche Tugend der Hoffnung zu verlieren. Diejenigen, die in Angst vor einer Infektion leben und sich bedingungslos staatlichen oder kirchlichen Massnahmen unterwerfen, sind hoffnungslos. Das gilt auch für jene, die alles, was geschieht, einem Projekt der Zerstörung zuschreiben, gegen das nichts unternommen werden kann, ausser den eigenen Zorn hinauszuschreien.“