Nach dem gescheiterten EU-Rahmenabkommen geht der Bundesrat in die Offensive und lanciert ein neues Verhandlungspaket. Ob die bisherigen Streitpunkte allerdings beseitigt werden können, ist fraglich.

Von Ralph Studer

Der Bundesrat versucht einen neuen Anlauf, zentrale Punkte mit der EU vertraglich zu regeln: Am 23. Februar 2022 verabschiedete er deshalb seine Stossrichtung für ein Verhandlungspaket mit der EU. Im Unterschied zu den früheren Verhandlungen beim EU-Rahmenabkommen (s. auch Sonderausgabe Zukunft CH zum EU-Rahmenabkommen) hat der Bundesrat dieses Mal die wichtigen Organisationen in der Schweiz frühzeitig ins Boot geholt, um alle Betroffenen oder Mitinteressierten v.a. im Bereich der Personenfreizügigkeit miteinzubeziehen. Neben den betroffenen Bundesstellen und Kantonsvertretern waren auch die Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften mit an Bord.

Ein kurzer Blick zurück. Dass die Verhandlungen zum EU-Rahmenabkommen im Mai 2021 abgebrochen wurden, lag im Wesentlichen an nachfolgenden Punkten:

1. Die EU forderte eine dynamische Rechtsübernahme durch die Schweiz mit der Folg11e, dass die Schweiz in den Bereichen, in denen sie Zugang zum EU-Binnenmarkt bekommen hätte, automatisch EU-Recht (ohne Mitspracherecht) hätte übernehmen müssen. Bei fehlendem Einverständnis der Schweiz sah der Rahmenvertrag sogenannte „Ausgleichsmassnahmen“ durch die EU vor, was objektiv einer Strafmassnahme gegen die Schweiz gleichkam. Diese Strafmassnahmen konnten bis zur vollständigen Aussetzung von Verträgen reichen, solange diese verhältnismässig und sachgerecht waren.

Ob die EU sich an diese rechtlichen Vorgaben gehalten hätte, kann zu Recht in Frage gestellt werden. Bisherige Erfahrungen mit der EU zeigen, dass die EU auch vor politischen und wirtschaftlichen Druckmitteln nicht zurückschreckt. Erinnert sei an den Verlust der Anerkennung der Schweizer Börsenregulierung durch die EU (vgl. Artikel der Zeit: Ende der Geduld: EU lässt Anerkennung der Schweizer Börse auslaufen) oder die Verknüpfung des Marktzugangs mit der Forschung mit der Folge, dass die Schweiz den Zugang zum europäischen Forschungsprogramm Horizon verlor (vgl. Artikel NZZ: Wie weiter mit der EU? Der Bundesrat präsentiert seine Pläne, abgerufen am 3.3.2022). In beiden Fällen Verknüpfungen, welche in keinem sachlichen Zusammenhang stehen, und als willkürlich zu bezeichnen sind.

2. Besonders umstritten war auch die Frage, wie bei Streitigkeiten zwischen der Schweiz und EU vorzugehen sei. Die beabsichtigte Streitbeilegung regelte, dass zuerst ein Schiedsgericht und – falls es EU-Recht betrifft – sogar der Europäische Gerichtshof (EuGH) beizuziehen war. Das Urteil des EuGH wäre dann für das Schiedsgericht verbindlich. Dass diese Regelung für die Schweiz unannehmbar war, liegt auf der Hand. Mit dem Bild eines Fussballspiels ausgedrückt: Die EU hätte sozusagen das Recht, in einer Fussballpartie neben den elf Feldspielern auch noch den Schiedsrichter mitzubringen. Von Unparteilichkeit kann deshalb keine Rede sein.

3. Die Personenfreizügigkeit wird weiterhin ein wesentlicher Zankapfel bei allfälligen Neuverhandlungen bilden. Warum? Ein wesentlicher Streitpunkt ist die bisherige Forderung der EU nach Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie. Der Grund: Personen aus der EU, die in der Schweiz aufenthaltsberechtigt sind, hätten – mit Ausnahmen – das Recht, gleich behandelt zu werden wie Schweizer Staatsbürger. Dies hätte zur Folge, dass

Eine vertragliche Vereinbarung der Unionsbürgerrichtlinie zwischen der Schweiz und der EU würde den Druck auf die Schweizerischen Sozialwerke nochmals erhöhen und zu einer weiteren massiven finanziellen Belastung führen.

4. Auch Fragen im Bereich staatlicher Subventionen, Steuererleichterungen für Firmenansiedlungen oder Kantonsanteile an Unternehmen (z.B. Kantonalbanken) blieben damals ungeregelt.

Neue Vorschläge des Bundesrats

Bis anhin hatte der Bundesrat ein allgemeines Rahmenabkommen für sämtliche Bereiche verfolgt („horizontaler Ansatz“). Angesichts der gescheiterten Verhandlungen hat der Bundesrat diesen Ansatz nun aufgegeben und schlägt der EU vor, einzelne Binnenmarktabkommen (z.B. im Bereich Strom, Forschung) abzuschliessen („vertikaler Ansatz“). Damit würden sich allerdings dieselben Fragen wie beim Rahmenabkommen bezüglich dynamische Rechtsübernahme, Streitbeilegung usw. stellen, allerdings nur in Bezug auf die jeweiligen Einzelabkommen.

Vertragsverhandlungen auf Augenhöhe

Der oft gegen die Schweiz vorgebrachte Vorwurf der „Rosinenpickerei“ ist unverständlich. Vertragsverhandlungen finden üblicherweise und fairerweise zwischen zwei gleichberechtigten Partnern auf Augenhöhe statt, gemäss dem Grundsatz: „Hart in der Sache, fair gegenüber der Person“. Vertragspartner haben unterschiedliche Bedürfnisse, sind mit Vorschlägen der Gegenseite nicht einverstanden, lehnen diese ab, neue Vorschläge erfolgen usw.: alles Aspekte, die in Vertragsverhandlungen völlig normal sind. Verträge sind ein Geben und ein Nehmen und können auch scheitern. In den medialen Darstellungen geht oft vergessen, dass auch die EU ein veritables Interesse an guten (vertraglichen) Beziehungen mit der Schweiz hat. Schliesslich ist die Schweiz nach USA, China und GB der viertgrösste Export- und Importmarkt der EU (vgl. EDA: Wirtschaft und Handel – eine wichtige Partnerschaft).

Neuverhandlungen – der richtige Weg?

Sollten tatsächlich Neuverhandlungen zwischen der EU und der Schweiz stattfinden, ist hartes Ringen um Lösungen bereits vorprogrammiert. Mitte-Ständerat Pirmin Bischof bringt es auf den Punkt: „Die Unionsbürgerrichtlinie ist inakzeptabel. Sie würde einen eigentlichen Dammbruch bringen, was den Zugang zu Aufenthaltsrecht und Sozialhilfe betrifft und würde finanziell unabsehbare Konsequenzen mit sich bringen.‟ (vgl. Artikel SRF: Rahmenabkommen mit der EU: Die Unionsbürgerrichtlinie – ein Phantom ohne Preisschild).

Es stellt sich die Frage, warum die Schweiz überhaupt in Neuverhandlungen einsteigen soll und ob es nicht für die Schweiz angesichts der bisherigen EU-Forderungen nicht mehr zu verlieren als zu gewinnen gibt. Die damaligen Forderungen der EU wie dynamische Rechtsübernahme, die Frage nach der Streitbeilegung und die Übernahme der Unionsbürgerrechtlinie werden sicherlich erneut zum Thema werden.

Einen inakzeptablen Vertrag, der die flankierenden Massnahmen und die Sozialwerke ausbluten lässt und die direkte Demokratie und Selbstbestimmung der Schweiz aushöhlt, darf die Schweiz in keinem Fall unterzeichnen.