Bis 2050 soll sich die Zahl der über 80-Jährigen in Belgien auf 1,2 Millionen Menschen verdoppeln. Demgegenüber stehen Personalknappheit sowie steigende Kosten im Gesundheitssystem. Für den Gesundheitsmanager Luc Van Gorp ein Problem, das durch Euthanasie gelöst werden könnte.

Luc Van Gorp ist Vorsitzender der grössten belgischen Gesundheitskasse „Christelijke Mutualiteiten“. Er schlägt angesichts der demographischen Entwicklung vor, dass „lebenssatte“, jedoch ansonsten gesunde Menschen auch die Möglichkeit haben sollten, auf Wunsch getötet zu werden. Ziel sei nicht ein möglichst langes, sondern vor allem ein qualitativ hochwertiges Leben, so Van Grop. „Sterbehilfe“ ist in Belgien bereits seit 2002 erlaubt, allerdings nur bei Vorliegen einer unheilbaren Krankheit, einer medizinisch aussichtlosen Lage und bei unerträglichem Leiden.

Ökonom bezeichnet „Sterbehilfe“ als „Zurückgeben des Lebens“

Der Gesundheitskassenvorsitzende schlägt zur Verbesserung der Lebensqualität jedoch nicht eine gute Betreuung und Versorgung von kranken und hochaltrigen Menschen vor, sondern eine kostengünstigere: nämlich sich vorzeitig mit Unterstützung eines Arztes das Leben zu nehmen. Van Gorp meidet dabei das Wort „Suizid“. Dieser Begriff sei negativ behaftet. Stattdessen zieht er es vor, von einem „Zurückgeben des Lebens“ zu sprechen. Eine euphemistische Umschreibung für eine radikal utilitaristische Zugangsweise, die den alten und/oder kranken Menschen als aussortierbares Produkt betrachtet.

Eine Gesellschaft, die den Tod als Lösung anbietet, hat versagt

Sammy Mahdi, Vorsitzender der flämischen Christdemokraten CD&V, fasst den Vorschlag Van Gorps mit dem Wort „Wegwerfgesellschaft 2.0“ zusammen. Für ihn sei es keine Lösung, den Menschen einen vorzeitigen Tod anzubieten. „Wenn jemand des Lebens müde ist und das Gefühl hat, im Weg zu stehen und keinen Besuch mehr bekommt, dann versagen wir als Gesellschaft“, bringt es Mahdi auf den Punkt.

Vorschlag für lebensmüde Senioren findet Unterstützung bei Liberalen und Grünen

Der Vorsitzende der Gesundheitskasse erntet mit seinem Vorstoss jedoch auch politische Zustimmung. So ist die liberale Open VLD Partei Van Gorps Ansinnen durchaus zugetan. Sie setzt sich selbst bereits seit Jahren für die Tötung auf Verlangen nach einem „erfüllten Leben“ ein. Auch die Grünen (Groen) können seinem Vorschlag einiges abgewinnen, wollen die Debatte jedoch unabhängig von ökonomischen Überlegungen und dem Problem der gesellschaftlichen Überalterung diskutieren.

Ökonomische Überlegungen in Zusammenhang mit „Sterbehilfe“ sind nicht neu

Belgien ist nicht das erste Land, in dem drastische Ansätze zum Umgang mit der Überalterung der Gesellschaft erörtert werden. In Kanada beispielsweise haben Ökonomen errechnet, wieviel Geld sich das dortige Gesundheitssystem durch die Einführung der Tötung auf Verlangen einsparen kann. In den Niederlanden wird bereits seit mehreren Jahren ein Gesetz zur Euthanasie am Ende eines „erfüllten Lebens“ diskutiert. Dieses sollte allen Personen ab 75 Jahren ein Recht auf Euthanasie, unabhängig von schwerer Erkrankung und unerträglichem Leiden, gewährleisten.

Hochaltrige bilden jetzt schon die grösste vulnerable Gruppe für Tötungspraktiken

Umgesetzt wurde der Vorschlag für ein derartiges Gesetz bisher noch nicht. Gleichwohl steigen die „Sterbehilfe“-Zahlen in den Niederlanden seit Jahren an. Im Vergleich zum vorletzten Jahr (8720) entschieden sich laut dem aktuellen Jahresbericht der niederländischen Kontrollkommission im Jahr 2023 etwa vier Prozent mehr Menschen für eine Tötung auf Verlangen. Insgesamt nahmen sich 9068 Niederländer mit Hilfe Dritter das Leben. Das sind etwa 25 Personen pro Tag.

Die grösste Gruppe der auf Verlangen Getöteten waren hochaltrige Personen. Mehr als 70 Prozent aller „Sterbehilfe“-Fälle entfiel demnach auf über 70-Jährige – also jene Gruppe, die nach der Vorstellung Van Gorps und anderer in den fraglichen Genuss einer „Letzte Wille-Pille“ oder eines „Erfülltes Leben-Gesetzes“ kommen sollte.

Mehr „Sterbehilfe“ bei eingeschränkt entscheidungsfähigen Patienten

Eine weitere besorgniserregende Tendenz in Zusammenhang mit Euthanasie, wie sie in den Niederlanden genannt wird, betrifft Demenz-Patienten und psychisch Erkrankte. Bei ihnen handelt es sich oft um Menschen, die bedingt durch ihre Erkrankung nicht mehr oder nicht eindeutig entscheidungsfähig sind. Während bei den Demenzkranken 2019 noch 162 Fälle von Tötung auf Verlangen gemeldet wurden, waren es letztes Jahr bereits mehr als doppelt so viele, nämlich 328. Bei psychisch erkrankten Personen haben sich die Sterbehilfe-Zahlen vom Jahr 2019 (68) bis zum Vorjahr mehr als verdoppelt und lagen bei insgesamt 138 gemeldeten Fällen. 

Behörden konstatieren die Entwicklung, ohne etwas ändern zu wollen

Die niederländische Kontrollkommission nimmt die steigende Anzahl von Menschen, die frühzeitig aus dem Leben scheidet, zur Kenntnis, nimmt in ihrem Jahresbericht aber keine Ursachenanalyse vor. Der Vorsitzende des Gremiums, Jeroen Recourt, führt die Entwicklung am ehesten auf veränderte Vorstellungen von Patientenautonomie und damit auch andere Wünsche der Betroffenen am Lebensende zurück. Dass die Gesetzeslage seit 2001 mit der Legalisierung der Euthanasie auch eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung in Gang gebracht haben könnte, wird nicht erwogen.

Quelle: IMABE