Unberechenbare politische Entwicklungen drohen im Vorderen und Mittleren Orient – diese Befürchtung äussert der Zentralrat der Armenier in Deutschland (ZAD) in einer Stellungnahme zum geplanten Staatsbesuch des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan am 30. und 31. Oktober in Berlin. Der Westen, appelliert der ZAD-Vorsitzende Azat Ordukhanyan an Bundeskanzlerin Angela Merkel, muss die zunehmend radikale Islamisierung der Türkei endlich zur Kenntnis nehmen: „Wir stehen offensichtlich vor einem gefährlichen Wendepunkt türkischer Politik. Ankara kehrt dem Westen den Rücken und orientiert sich zunehmend an den Ideen eines pantürkischen Grossreichs, das den Einfluss des vergangenen Osmanischen Reichs wiederherstellen soll.“
Neuester Anlass für die Sorgen der Armenier und anderer Türkei-stämmiger Migranten in Deutschland ist Erdogans programmatische Rede auf dem Parteitag seiner AKP vor wenigen Wochen. Der türkische Ministerpräsident beschrieb den Weg seines Landes gen Westen unter dem Jubel seiner Anhänger schlicht so: Das Ziel sei „2071“. Diese Jahreszahl markiert ein dramatisches Ziel: 2071 nämlich jährt sich zum tausendsten Mal die Schlacht von Manazkert (Manzikert), die den Sieg der seldschukisch- türkischen Macht über Byzanz vorbereitete – und den Sieg über die Christen.

Erdogan, so der ZAD-Vorsitzende, forciert die schleichende Islamisierung der Türkei und er verliert auf diesem Weg zunehmend jede Hemmung: Er bezeichnet Sultan Arp Aslan als leuchtendes Vorbild, einen grausamen Kriegshelden also, der sich die Idee des allherrschenden Türkentums, des Turanismus, auf die Fahne geheftet und damit Richtung Westen gezogen ist. Das Jahr 1071 war der schwarze und verhängnisvolle Wendepunkt in der Geschichte vieler Hochkulturen wie der Armenier, der Griechen, der Assyrer und vieler anderer. Ganz offensichtlich stehe diese aggressive pantürkische bzw. panislamische Idee noch immer – oder: jetzt wieder – auf der Agenda der aktuellen Politik Ankaras.

Es gibt viele weitere Anzeichen für die radikale Islamisierung der Türkei: etwa die geplante Umwidmung der griechisch-orthodoxen Basilika von Trabzon in eine Moschee; der Propagandafilm „Fethi 1453“, der zur Zeit mit grossem Erfolg erbärmliche Hetze gegen Christen übt; die beunruhigende Einschränkung der Meinungs- und Religionsfreiheit; anhaltende Menschenrechtsverletzungen nicht zuletzt gegenüber ethnischen und/oder religiösen Minderheiten wie Kurden, Assyrern, Aleviten, Yeziden oder Armenier.

Ordukhanyan: „Was bedeutet das für den Westen, wie interpretieren wir in Zukunft die Interventionen Ankaras, seiner Diplomaten und der Religionsbehörden hierzulande? Muss ‚2071’ nicht endlich als Warnsignal verstanden werden, viel genauer hinzuhören, wenn die Türkei eine neue politische Grundsatzlinie definiert? Sind nicht auch die deutschen und europäischen Organisationen Türkei-stämmiger Migranten – Muslime oder Nichtmuslime – gefordert, Widerstand zu leisten und aufzuklären über eine brandgefährliche Entwicklung der türkischen Politik?“ Und was, so der ZAD-Vorsitzende weiter, bedeuten all diese Signale für den Prozess der Annäherung der Türkei an die Europäische Union?

Europa beginnt möglicherweise bereits, sich abzuwenden: Kein westlicher Politiker von Rang war auf dem Kongress der AKP vertreten. Der ZAD: „Diese Zurückhaltung europäischer Politik mag ein Zeichen der Ermutigung sein. Wichtiger wäre allerdings ein kraftvoller Einspruch: Davon ist nichts zu hören.“

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