Unter dem Titel „Wir haben abgetrieben“ erzählten im Juni 2019 in der Pendlerzeitung „20Minuten“ verschiedene Paare anonym von ihren Erfahrungen.

Von Regula Lehmann

Unter anderem schrieb Martina, 30, die Ärzte hätten sie gebeten, das Leiden ihres Kleinen vorzeitig zu beenden, weil bei diesem eine Trisomie 13 diagnostiziert worden war. Dass dieser Bericht für unzählige weitere steht, bestätigen Umfragen in meinem Bekanntenkreis. Zahlreiche Eltern berichten, sie seien von Ärzten zu vorgeburtlichen Tests gedrängt worden. Weigerten sie sich, wurden ihnen dramatische Szenarien geschildert oder einseitig negative Konsequenzen aufgezeigt. Ein Leben mit behindertem Kind sei der Horror, sie würden das schlichtweg nicht schaffen, wurde einem Paar erklärt, das sich aufgrund dieses ärztlichen Rates zur Abtreibung entschloss. Als eine befreundete Familie einige Jahre später ein Kind mit Down Syndrom adoptierte, wurde beiden schmerzlich bewusst, dass sie fehlgeleitet worden waren. „Wir hätten das auch geschafft“, sind sie heute überzeugt. Ein anderes Paar wechselte den Gynäkologen, weil im achten Schwangerschaftsmonat eine Trisomie 21 festgestellt wurde und der Arzt zur Spätabtreibung drängte. Zahlreiche Eltern berichten zudem, dass bei ihrem Kind schwere Beeinträchtigungen diagnostiziert worden waren, es jedoch kerngesund zur Welt gekommen sei.

Auch wenn nicht alle Gynäkologinnen und Gynäkologen so handeln, muss in aller Deutlichkeit festgehalten werden, dass in solchen Fällen ein Missbrauch ärztlicher Macht vorliegt und Eltern in einer verletzlichen und sensiblen Situation einer unlauteren Beeinflussung ausgesetzt werden. Ärztliche Pflicht ist es, ausgewogen über Fakten und Risiken zu informieren, mögliche Vorgehensweisen zu schildern und Paaren eine angemessene Bedenkzeit für eine sorgfältige Entscheidungsfindung einzuräumen. Die Herausforderung, welche ein behindertes Kind mit sich bringt, soll dabei weder bagatellisiert noch dramatisiert werden. Fachliteratur, Informationen über Hilfsangebote und Kontakte mit Eltern, die ein behindertes Kind aufziehen, ermöglichen eine differenzierte Auseinandersetzung. Im Fall potentiell nicht überlebensfähiger Ungeborener sollen Eltern, die sich zum Austragen des Kinders entschliessen, auf die volle ärztliche Unterstützung und eine kompetente Begleitung im Trauerprozess zählen dürfen. Erfahrungsberichte zeigen, dass der natürliche Tod eines Kindes oft deutlich besser in die eigene Biografie und die Familiengeschichte integriert wird als eine Abtreibung.

Keinesfalls Aufgabe des Arztes ist es, ein Urteil über den Wert des Ungeborenen zu fällen oder zu behaupten, ein behindertes Kind sei für Eltern und Geschwister generell nicht zumutbar. Die Beteuerung, man erspare einem Kind mit seiner Tötung Leiden oder ein „unglückliches Leben“, ist vermessen und zutiefst übergriffig. Viele Behinderte bezeichnen sich als glücklich und manch Kranker empfindet sein Leben trotz seines Leidens als Geschenk. Auch ist an das ärztliche Ethos zu erinnern, das dazu verpflichtet, menschliches Leben zu retten und behinderte Kinder bilden hier keine Ausnahme!

Abschliessend muss die Frage gestellt werden, ob Gynäkologinnen und Gynäkologen tatsächlich die richtigen Personen sind, um Paare in der Frage um Leben und Tod ihres Kindes zu beraten. Zum einen, weil sie insbesondere dann, wenn sie den Eingriff selber ausführen oder ihn zumindest im eigenen Spital ausführen lassen, befangen sind. Und zum anderen, weil sie oft weder genügend Zeit haben noch über eine entsprechende Berater-Ausbildung verfügen.