Nun ist es soweit: Ägyptens neue Nationalversammlung hat sich konstituiert. Sie ist aus den ersten freien Wahlen nach 60 Diktaturjahren von Nasser, Sadat und Mubarak hervorgegangen. Das Parlament in Kairos ehemaligem Kolonialviertel Garden City zeigt rauchgeschwärzt die Spuren der „Arabischen Revolution“ von 2011. Doch keiner ihrer fortschrittlichen und meist jugendlichen Wortführer sitzt nun in dieser postrevolutionären Volksvertretung. Auch die alten Konservativen vom Wafd, die 1924 den Engländern und ihrem König Fuad I. die konstitutionelle Monarchie abgerungen und dieses theaterähnliche Gebäude im viktorianischen Stil errichtet hatten, errangen diesmal nur 8.4 Prozent der Stimmen; noch weniger die neuliberale „Ägyptische Allianz“ mit 6,6 Prozent. Mehr als zwei Drittel der Abgeordneten stellen die beiden islamischen Fraktionen der Moslembrüder und der noch radikaleren Salafisten. Die etwa 15 Prozent koptischen Christen müssen sich mit einer Handvoll Mitläufern bei den gewählten Parteien und sechs nachträglich vom militärischen Machthaber Masrschall Tantauwi bestellten „Ehrenparlamentariern“ begnügen. Noch schlimmer sieht es mit der Vertretung von Ägytens Frauen aus: Sie erhielten nur zwei Sitze, ebenfalls von Gnaden des interimistischen Staatschefs.
Die von dem alten antikolonialistischen Terrornetzt der Moslembrüder getragene „Partei für Freiheit und Gerechtigkeit“ sowie die ganz islamisch-fundamentalistische „Partei des Lichts“ haben zusammen 70,4 Prozent der Stimmen errungen und damit im neuen Parlament das völlige Sagen. Vor allem die Moslembrüder überschlagen sich jetzt in Beteuerungen, demokratische und prowestliche Ziele zu verfolgen. Israel sind sie keinesfalls wohlgesinnt. Das lässt sich schon in den ägyptischen Medien als kalter Wind gegen den „Judenstaat“ spüren und wird wohl sehr bald auch politische Folgen haben. Dass es sich vollends bei den Erklärungen für parlamentarische Demokratie und Religionsfreiheit mehr oder weniger um Lippenbekenntnisse handelt, zeigt schon ein Blick darauf, wer in die Nationalversammlung eingezogen ist: So der nachweislich in Anschläge auf Kirchen involvierte Abdel Rahim al-Ghul und vor allem der Islamisten-Ideologe Jussuf al-Kadarauwi. Für die neue Verfasssung, die vom Parlament ausgearbeitet wird, verlangt er einen Artikel, der jedes Gesetz, das den Satzungen des Islams widerspricht, für null und nichtig erklärt. Wer vom Islam „abfällt“ oder auch nur seine Glaubensgrundsätze und rechtlichen Bestimmungen öffentlich kritisiert, ist für Kadarauwi auch ein Verräter am Staat, der von den politisch Verantwortlichen mit dem Tod bestraft werden muss. Und bei den Salafisten, zu Deutsch „die Altvorderen“, herrscht überhaupt kein Zweifel daran, dass sie Ägypten von allen Nicht-Moslems wie auch Freidenkern oder Feministinnen säubern und es natürlich strikt „judenrein“ machen wollen.

Diese bedrohliche Konstellation gibt jetzt den fortschrittlicheren Ägypterinnen und Ägyptern zu denken. So warnt die führende Tageszeitung Al-Ahram (Die Pyramiden) in ihrer Ausgabe für Dienstag vor einer bevorstehenden „Tyrannei der Mehrheit“. Und Chefkommentator Aiman al-Amir ruft auf: „Rettet Ägypten vor sich selbst!“

Von Heinz Gstrein