Ende März 1827: Sie wollen einen Frühlingsspaziergang über den Ortsfriedhof des Wiener Gemeindebezirks Währing machen, doch da ist kein Durchkommen. Die Massen drängen sich, nicht nur Hunderte, nein, Tausende wollen offenbar einem Verstorbenen die letzte Ehre erweisen.

Von Ursula Baumgartner

„Am 26. März ist er gestorben!“ hört man jemanden sagen. „Und er war wirklich völlig taub?“, fragt ein anderer betroffen. „Ja, der Cousin meines Nachbarn kannte ihn, der hat erzählt, man konnte seit einigen Jahren nur noch schriftlich mit ihm kommunizieren“, antwortet der erste. „Ich war vor drei Jahren in der Uraufführung seiner neunten Symphonie. Sehr schade, dass es die letzte gewesen sein soll! Und unglaublich, dass er keinen Ton davon hören konnte. Wie war er dann imstande, so etwas Schönes zu komponieren?“ Der andere nickt beeindruckt und will wissen: „Woran ist er eigentlich gestorben?“ Da neigt sich der erste zu ihm und raunt ihm etwas ins Ohr, was man anhand der Zischlaute entweder als „soff zu viel“ oder als „Syphilis“ interpretieren kann.

Das grimmige Genie

So ähnlich wird es wohl abgelaufen sein beim Tod von Ludwig van Beethoven. Und auch heute, 195 Jahre später, gibt es immer noch Diskussionen darüber, was die Todesursache des hier betrauerten Genies letztlich war. Zwar scheint man inzwischen die Syphilis ausschliessen zu können, doch eine Leberzirrhose aufgrund seines reichlichen Alkoholgenusses scheint sicher sowie eine u.a. dadurch bedingte Bleivergiftung. Denn sowohl der billige Weisswein, den Beethoven wohl in Massen konsumierte, als auch viele Salben und Pflaster zur Linderung seiner anderen Leiden waren mit Bleiverbindungen versetzt, da Blei zu dieser Zeit als Allheilmittel galt – ein grausamer, ja tödlicher Irrtum der Medizin. Doch Beethoven war nahezu zeit seines Lebens ein von Krankheit gezeichneter Mann. Nicht nur die Pocken, die er als Kind überstehen musste und die zahlreiche Narben hinterliessen, auch bis heute ungeklärte Unterleibsschmerzen und dauernde Verdauungsprobleme plagten den Komponisten, der wie kaum ein anderer die Musikwelt seiner Zeit und der Nachwelt prägte. Kein Wunder also, dass Beethoven von vielen Zeitgenossen als reizbar, ungeduldig und grimmig beschrieben wurde. Was also führte dazu, dass geschätzte 10‘000 bis 20‘000 Gäste den Trauerzug eines cholerischen Schwerbehinderten mit Suchtproblem beehrten?

So manch einer mag empört rufen. „Als was haben Sie ihn gerade bezeichnet? Auf so etwas kann man einen Menschen doch nicht reduzieren! Haben Sie noch nie seine Musik gehört? Dieser Mann war ein Genie, wie es nicht oft vorkommt. Und selbst wenn er all das war, was Sie sagen, ist das doch nur ein Grund zum Mitgefühl!“

Das kranke Genie

Eine solche energische Rede macht nachdenklich – und letztlich muss man zustimmen. Doch es stellt sich die Frage: Wie würde jemand wie Beethoven heute behandelt werden? Würde man seiner Behinderung mit mehr Respekt und Entgegenkommen begegnen als vor etwa 200 Jahren, als Schwerhörige und Taube als dumm und begriffsstutzig galten, weil sie nicht verstanden, was man ihnen sagte? Bekäme er psychologische Hilfe in seiner Angst vor dem Verlust seines Hörsinns, die ihn sogar zu Selbstmordgedanken trieb, wie er seinen Brüdern in einem als „Heiligenstädter Testament“ bekannt gewordenen Brief gestand? Würde man verstehen, dass für ein Genie seines Ausmasses die Verzweiflung über sein schwächer werdendes Gehör weit mehr war als die Wut über einen verlorenen Groschen? Und würde man seinen Alkoholkonsum in diesem Zusammenhang verstehen oder ihn achselzuckend als Säufer abtun, der an der Welt und ihren Herausforderungen scheitert?

Und die wohl grundlegendste Frage: Würde es Beethoven überhaupt geben? Die Ursache für seine Schwerhörigkeit vermutet man heute in einer als Otosklerose bezeichneten Verknöcherung der Gehörknöchelchen. Im gesunden Zustand sorgen diese für die Schallweiterleitung im Mittelohr, im verknöcherten Zustand verwachsen sie mit dem Trommelfell und werden daher unbeweglich. Diese Krankheit wird nach dem autosomal-dominanten Erbgang vererbt. Das heisst, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit in jeder Generation wieder auftritt, wenn sie in einer Familie vorkommt. Hätten die Eltern Beethoven die Möglichkeit einer Stammbaumanalyse und einer genetischen Familienberatung gehabt – dürften wir uns heute überhaupt erfreuen an Elise und Fidelio und der berühmtesten grossen Terz der Musikgeschichte, dem „Dadada-daaa“ der Fünften Symphonie? Die aktuellen Entwicklungen lassen vermuten, dass eine solche Wahrscheinlichkeit zur Behinderung wohl eher zu einer Abtreibung geführt hätte …

Ja, Beethoven war ein schwerbehinderter und aufgrund dessen wahrscheinlich griesgrämiger, unsozialer Zeitgenosse. Aber er war unleugbar ein Genie, dem sein absolutes Gehör dabei half, auch in Zeiten seiner Schwerhörigkeit und Taubheit der Welt weiterhin seine innere Musik zu schenken. Deswegen nun darauf zu schliessen, dass sich hinter jedem cholerischen Temperament automatisch ein Genie verbirgt und jeder Suchtkranke in Wahrheit ein unvergleichlicher Hochbegabter ist, wäre wohl auch ein Fehlschluss. Doch es ist ein Anlass, Kranke und Behinderte nicht nur im Licht ihres Problems und ihrer Beschränkung wahrzunehmen. Und wenn unserer Gesellschaft das gelingt, ist es für alle gleichermassen ein Grund für eine Ode an die Freude.