Nach dem Ständerat hat nun auch der Nationalrat anfangs Mai 2025 der Motion „Der EGMR soll sich an seine Kernaufgabe erinnern“ zugestimmt. Diese Annahme ist erfreulich. Zugleich enthüllte die vehemente Ablehnung dieser Motion von linksliberalen Kreisen und von Nichtregierungsorganisationen (NGO), worum es im Kern wirklich geht: Es geht um die Festigung und den Ausbau politisch motivierter Menschenrechte und die Schwächung der nationalen Souveränität. Und dabei spielt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strasbourg eine entscheidende Rolle.

Kommentar von Ralph Studer

In ihrer Stellungnahme im Vorfeld zur parlamentarischen Debatte hatte die Stiftung Zukunft CH die Motion Nr. 24.3485 „Der EGMR soll sich an seine Kernaufgabe erinnern“ unterstützt und begrüsst diesen Entscheid.

Ziel der Motion

Auslöser für diesen parlamentarischen Vorstoss war das Urteil „KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz“ vom April 2024. Die Motion will, dass der Bundesrat gemeinsam mit anderen Staaten ein 17. Protokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) aushandelt. Ziel ist es, dass der EGMR wieder zu seinen Grundsätzen zurückkehrt. Namentlich soll der EGMR keine ideelle Verbandsbeschwerde zulassen (vgl. Art. 34 EMRK) und nicht mittels expansiver Auslegung der Grundrechte den legitimen Ermessensspielraum der Staaten einschränken (vgl. Präambel bzw. 15. Protokoll zur EMRK).

EGMR überschreitet bewusst seine Kompetenzen

Nach dem Grundsatz von „Treu und Glauben“ wäre der EGMR gehalten, die EMRK-Bestimmungen eng auszulegen, um den Staaten keine Verpflichtungen aufzuerlegen, denen sie nicht tatsächlich vorab und ausdrücklich zugestimmt haben. Der Gerichtshof sieht dies jedoch anders und gesteht dies auch offen ein.

Der EGMR wirkt wie eine Art Katalysator, der die Fortentwicklung der Menschenrechte vorantreibt und über den Willen der Staaten hinausgeht. Dies lässt sich an seiner Rechtsprechung deutlich erkennen. So hält er fest, dass die EMRK ein „lebendiges Instrument“ ist und jederzeit „im Lichte der heutigen Gegebenheiten“ ausgelegt werden kann. In einem anderen Urteil betonte er seine Absicht, den „dynamischen und evolutiven Zugang beizubehalten“.

Dieses Vorgehen des EGMR ist für die Vertragsstaaten verheerend: In den vergangenen Jahrzehnten hat der Gerichtshof schrittweise den Gehalt der EMRK-Menschenrechte nach eigenem Gutdünken geändert beziehungsweise erweitert, was früher den Vertragsstaaten überlassen war.

Die auf diese Weise neu geschaffenen Rechte verpflichten die Vertragsstaaten ohne ihr Mittun und untergraben so ihre staatliche Souveränität.

Politisch motivierte Urteile

Das Klima-Urteil ist der vorläufige Abschluss einer langen Reihe von Urteilen, in denen der EGMR über die Jahre neue politisch motivierte Menschenrechte schaffte. Wie Grégor Puppinck, Direktor des „European Center für Law and Justice“, schreibt, anerkannte der EGMR beispielsweise die Freiheit, seine sexuelle Zugehörigkeit selber zu definieren.

Dies hatte gravierende Folgen. So stand Tür und Tor offen, sein „Geschlecht“ und seine „sexuelle Identität“ selbst zu wählen. Dadurch zwang der EGMR auch die Mitgliedstaaten, bei Personen, die sich einer chirurgischen Geschlechtsumwandlung unterzogen hatten, dieses neue Geschlecht im Personenstandswesen rechtlich anzuerkennen. Während der EGMR früher noch eine „irreversible Änderung der Erscheinung“ für eine rechtliche Anerkennung der Geschlechtsänderung verlangte, braucht es dies nach der aktualisierten Rechtsprechung des EGMR nicht mehr.

Geht es wirklich um richterliche Unabhängigkeit?

Dass Vertreter aus linken bzw. linksliberalen Kreisen bzw. NGOs wie Amnesty International oder die NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz argumentieren, die Motion setze gefährliche Signale und verletze die richterliche Unabhängigkeit, weil sie dem EGMR Leitplanken setzen wolle, ist unehrlich und heuchlerisch. Dieselben Kreise nämlich stören sich mit keiner Silbe daran, dass Experten wie Puppinck die richterliche Unabhängigkeit beim EGMR schon länger kritisch hinterfragen.

Und hier wird es spannend. Puppinck zeigt nämlich auf, dass in den zwischen 2009 und 2019 gefällten Urteilen eine zunehmend ideologische Färbung beim EGMR festzustellen ist. Stossend ist dabei u.a. die enge Verbindung mit NGOs, die eine politische Agenda vorantreiben. Nicht weniger als 22 der 100 der zwischen 2009 und 2019 am EGMR tätigen Richter hatten vor ihrem Amtsantritt für NGOs gearbeitet, die wiederholt Klagen am EGMR eingereicht haben. Zwölf Richter standen in Verbindung zu Soros „Offener Gesellschaft“ (Open Society), andere zu „Amnesty International“, „Human Rights Watch“ oder zum „Helsinki-Komitee“. Während des untersuchten Zeitraums hätten diese Richter an fast 90 Verfahren teilgenommen, in denen ihre jeweilige NGO involviert war.

„Die massive Präsenz von Richtern, die aus demselben NGO-Netzwerk stammen, spiegelt den Einfluss grosser Stiftungen und privater NGO auf das europäische System des Menschenrechtsschutzes wider“, so Puppinck. Das stelle nicht nur die Unabhängigkeit des Gerichtshofs infrage, sondern auch die Unparteilichkeit seiner Richter.

An den Fakten vorbei

Ähnlich fragwürdig sind die von denselben Kreisen ins Feld geführten Argumente, dass der Gerichtshof den Auftrag habe, die EMRK dynamisch auszulegen und der EGMR „subsidiär“ einspringen müsse (wie es Sibel Arslan in der Parlamentsdebatte formulierte), wenn die nationale Gerichte aus formellen Gründen Klagen abwiesen wie im Fall der „KlimaSeniorinnen“.

Diese Argumentation geht in beiden Fällen an den Fakten vorbei und will ein falsches Verständnis etablieren, das mit den historischen Tatsachen bei der Verabschiedung der EMRK im Jahre 1950 und den Entwicklungen der letzten Jahre unvereinbar ist.

Zum Ersten: Der EGRM hat sich selbst – ohne Grundlage – diesen Auftrag der dynamischen Rechtsauslegung gegeben. Dies war von den unterzeichnenden Mitgliedstaaten in keinster Weise so vorgesehen. Zum Zweiten: Der Begriff „Subsidiarität“ hat eine ganz andere Bedeutung. Subsidiarität meint, dass die Mitgliedstaaten in erster Linie für die Gewährleistung der EMRK-Rechte zuständig sind und dabei über einen Ermessensspielraum verfügen. Dies wird auch durch die Verabschiedung des 15. Protokolls zur EMRK deutlich. Es hält dieses Prinzip der Subsidiarität klar fest, um dem EGMR seine Grenzen aufzuzeigen, an die er sich allerdings nicht hält. Dazu kommt, dass es nicht Aufgabe des EGMR ist, über die Rechtsprechung an Parlament und Volk vorbei Politik zu betreiben und so die demokratische Debatte in der Schweiz auszuhebeln.

Was kann die Schweiz tun?

Gerade diese Erfahrungen mit dem 15. Protokoll zur EMRK zeigen, dass der EGMR sich durch Vereinbarungen der Mitgliedstaaten nicht beeindrucken lässt und an seiner dynamischen und progressiven Rechtsprechung weiterhin festhält. Deshalb heisst es, realistisch sein. Selbst wenn es gelingen sollte, sich mit den anderen Mitgliedstaaten über ein entsprechendes 17. Protokoll zur EMRK im Sinne der Motion zu einigen, ist eine Zähmung des EGMR wenig wahrscheinlich. Die bisherigen Erfahrungen lassen hier wenig Hoffnung.

Aufgrund dessen wird die Schweiz in absehbarer Zeit – bei ehrlicher und unvoreingenommener Analyse – nicht darum herumkommen, offen und kontrovers über die Frage nach einer Kündigung der EMKR und einem Austritt aus dem Europarat zu diskutieren. Dies umso mehr, als es um viel geht: um die Souveränität, die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie unseres Landes.

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