Die Passionserzählung, die Leidensgeschichte Christi in der Bibel, ist für Christen auch heute noch wichtig. Wir wissen allerdings: Jesu Tod ist nicht das Ende. Der Ostersonntag und mit ihm die Auferstehung leuchten schon zart in der Ferne. Doch wie ging es eigentlich den Beteiligten am Abend des ursprünglichen Karfreitags?
Von Ursula Baumgartner
Jesus ist tot. Mit dieser Gewissheit müssen die Jünger nun leben. Sie haben es gesehen, manche von Ferne, weil sie vor Angst aus Jesu Nähe geflohen sind, manche wie der Apostel Johannes aus nächster Nähe. Sie alle haben es mitbekommen, wie Jesus von der Menge wüst beschimpft wurde, wie sie seinen Tod gefordert hat, wie Pilatus feige um eines persönlichen Vorteils willen „seine Hände in Unschuld wusch“ und gleichzeitig einen Unschuldigen zum Tode verurteilte.
Der, der Wunder gewirkt hat, …
Das Entsetzen, das die Jünger nun erfüllt haben dürfte, kann man sich kaum vorstellen. Etwa drei Jahre lang haben sie Jesus begleitet. Sie haben ihn kennengelernt, haben die Wunder gesehen, die er gewirkt hat. Sie sahen, wie Blinde ihr Augenlicht bekamen, und wie Tote wieder lebendig wurden. Sie hörten seine Predigten, sahen sein Lächeln und durften die Liebe erfahren, mit der er den Menschen begegnete, die zu ihm kamen. Er erklärte ihnen exklusiv seine Gleichnisse, die anderen verborgen blieben. Er sah in ihre Gedanken und verstand ihre Sorgen und Anliegen wie niemand sonst. Sie sahen die Faszination, die er auf die Menschen ausübte, und bekamen mit, wie seine Anhängerschaft stetig wuchs und die Volksmenge, die zu ihm strömte, immer grösser wurde.
Doch sie hörten auch seine scharfen Worte gegen die jüdische Obrigkeit, gegen die Pharisäer und die Hohenpriester. Der ein oder andere wird sich vielleicht schon vor dem Gründonnerstag Sorgen gemacht haben, ob Jesus damit nicht früher oder später in grösste Schwierigkeiten geraten würde.
… wird verraten, verhaftet und verurteilt
Und genau so kam es. Beim Abendmahl an jenem Gründonnerstag kündigt Jesus sein Leiden noch einmal an. Doch um die Sache noch schlimmer zu machen: Die Gefahr kommt nicht von aussen. Judas, einer der zwölf engsten Freunde von Jesus, verrät seinen Aufenthaltsort an den Hohen Rat. Nach dem Abendmahl geht Jesus mit seinen Jüngern zum Ölgarten. Und dort erschrecken die Jünger zum ersten Mal über ihn. Sie haben Jesus Teufel austreiben, dem Sturm gebieten und übers Wasser laufen sehen. Er war immer der souveräne Herr der Situation. Nun gerät er vor ihren Augen in Todesangst, weil er weiss, was auf ihn zukommt.
Judas, der Verräter, erscheint nun mit Soldaten und Gerichtsdienern der Hohenpriester und der Pharisäer. Das Zeichen, das er mit ihnen verabredet, ist ein Kuss. „Der, den ich küssen werde, der ist es.“, so sagt er dem Hohen Rat. Das ist an Zynismus schwer zu überbieten. Das Zeichen, das Liebe, Zuneigung, Vertrautheit und Zärtlichkeit zum Ausdruck bringen sollte, missbraucht Judas als Zeichen des Verrats.
Jesus wird daraufhin gefangen genommen. Man verhört ihn, man verspottet ihn, man geisselt ihn, man verhöhnt ihn, den König der Juden, mit einer Krone aus Dornen. Man lädt ihm ein schweres Kreuz auf, das er zum Hinrichtungsort schleppen muss. Dort treibt man ihm Nägel durch Hände und Füsse und lässt ihn am Kreuz ersticken und verbluten.
Jesus lässt sich all das gefallen. Er wehrt sich nicht, er schimpft nicht und droht nicht. Er weiss, dass er all das um eines höheren Zieles willen erleidet, der Erlösung der Menschheit. Letztlich stirbt er mit einem lauten Schrei – ein Kraftakt, zu dem die Erstickenden normalerweise nicht mehr in der Lage sind. Dies veranlasst sogar den römischen Hauptmann, der das Kreuz bewacht, beeindruckt zu sagen: „Wahrlich, dieser war Gottes Sohn.“
Zurück im Abendmahlssaal
All diese Bilder haben die Jünger nun im Kopf, als sie sich am Abend des Karfreitags wieder im Abendmahlssaal einfinden. Die Stimmung, die hier herrscht, ist schwer vorstellbar. Trauer um ihren geliebten Freund und Meister, Entsetzen, Ekel vor der barbarischen Strafe der Kreuzigung, Wut, Angst, Ratlosigkeit, wie es weitergehen soll – alles ist dabei.
Doch sie müssen mit noch mehr Veränderungen fertigwerden. Zwei Jünger haben sich in den letzten 24 Stunden besonders „hervorgetan“. Judas, der Verräter, hat zu spät gemerkt, dass es falsch war, was er da getan hat. Er versucht nun, alles rückgängig zu machen, und sagt dem Hohen Rat, dass er Jesus für unschuldig hält. Doch sie geben ihren Gefangenen nicht mehr her. Judas ist daraufhin so verzweifelt, dass er keinen anderen Ausweg mehr sieht, als sich das Leben zu nehmen. So haben sie also innerhalb eines Tages zwei Menschen aus ihrem engsten Kreis verloren, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen.
Was denken die Jünger über Judas‘ Suizid? Sind sie traurig? Erschüttert? Denkt der ein oder andere, dass er ihm noch nie ganz getraut hat? Oder hatte er eine so gute Fassade aufrechterhalten, dass sein Verrat aus völlig heiterem Himmel kam?
Petrus, der gebrochene Fels
Der andere, der eine unrühmliche Rolle gespielt hat, ist Petrus. Er, den Jesus selbst als „Fels“ tituliert hat, ist nur mehr ein Häufchen Elend. Am Abend zuvor rühmt er sich noch, wenn nötig, sogar mit Jesus in den Tod zu gehen. Wenige Stunden später leugnet er aus Angst, auch verhaftet und ermordet zu werden, mehrfach, Jesus auch nur zu kennen. Das Markus-Evangelium spricht sogar davon, dass er dabei schwor und fluchte. Petrus muss nun also (vorerst) damit leben, dass das Letzte, was Jesus von ihm hörte, sein Verrat war. Für einen so starken und stolzen Charakter wie Petrus ist das kaum erträglich.
Wie gehen die anderen damit um? Trösten sie ihn mit dem Hinweis darauf, dass kaum einer von ihnen stark geblieben ist, sondern alle geflohen sind, als Jesus verhaftet wurde? Petrus, der vorlaute Hitzkopf, war bestimmt nicht jedermanns Liebling im Kreise der Apostel. Denkt sich manch einer vielleicht: „Warum muss er auch immer den Mund so weit aufreissen?“ Oder sind sie froh, dass es nicht sie selber waren, bei denen „Hochmut vor dem Fall“ kam?
Johannes und Maria
Schämen sie sich alle vor Johannes, dass sie nicht die Stärke besassen, unter dem Kreuz auszuharren, wie er es tat? Johannes wurde für seine Treue, seinen Mut und seine Tapferkeit direkt unter dem Kreuz belohnt. Ihm wurde von Jesus die liebevollste, aufmerksamste Mutter aller Zeiten, Maria, als Mutter anvertraut. Wo ist sie an diesem Abend? Die treue Mutter, die dem Engel bei der Verkündigung ihr „Ja“ gab, wie geht es ihr am Abend des Karfreitags? Hat sie nach allem, was sie gesehen hat, im Herzen nach wie vor die feste Hoffnung, dass ihr Sohn wirklich auferstehen wird, wie er es vorausgesagt hat?
Wenn wir Christen im Rückblick die Passion lesen, verlieren wir diesen Abgrund, in dem sich die Jünger befanden, schnell aus dem Blick. Zu klar ist es uns, wie die Sache ausgeht. Wir wissen, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, sondern die Auferstehung Jesu. Doch den Osterjubel der Jünger versteht nur, wer vorher mit ihnen durch das düstere Tal des Karfreitag Abends gegangen ist – dem Abend, als alles vorbei war.