Friede steht am Anfang des Jahres 2012 bei vielen Menschen weit oben auf der Liste der Hoffnungen, die sie an das neu angebrochene Jahr knüpfen. Der Wunsch nach Friede wurde denn auch traditionsgemäss in zahlreichen Neujahrsansprachen zum Thema gemacht. Bundespräsidentin Evelin Widmer-Schlumpf erwähnte das Wort „Friede“ zwar nicht explizit, brachte aber mit Vokabeln wie „Konsens“, „Wille zum Zusammenleben“ oder „internationale Gemeinschaft“ den gleichen Wunsch zum Ausdruck. Dass der Friede an ganz bestimmte Bedingungen geknüpft ist, stellte Papst Benedikt XVI. in seiner Botschaft zum 45. Weltfriedenstag der katholischen Christen am 1. Januar deutlich heraus. Das Schreiben erschien in Rom unter dem Titel „Die jungen Menschen zur Gerechtigkeit und zum Frieden erziehen“.

Von Dominik Lusser

Dass der Friede keine Selbstverständlichkeit ist, zeigen die weltweit brodelnden Krisen- und Kriegsherde nur allzu gut. Doch auch in der Schweiz ist der Friede immer wieder bedroht, sei es durch randalierende Fussballfans, Streit in den Familien, Gewalt auf den Schulhöfen oder durch den zunehmend gehässigen Ton in den politischen Debatten. Friede ist eines der höchsten Güter unseres Lebens, eine der tiefsten Sehnsüchte der Menschen. Doch entsteht Friede nicht von selbst, sondern erfordert den grossherzigen Einsatz eines jeden Gliedes einer Gesellschaft.

Wie aber muss dieser Einsatz aussehen? Wenn es um die grossen Fragen des menschlichen Lebens und der Welt geht, ist meistens nicht in erster Linie Originalität gefragt. Man bildet sich sonst nämlich ein, weiser zu sein als die vielen Generationen und ihre Denker und Propheten, die vor uns die Erde bewohnten und sich um Frieden bemühten. Viel mehr lohnt es sich, immer mal wieder auf den Schatz jener Weisheit zu hören, welche den kulturellen und religiösen Reichtum des Abendlandes und eigentlich der Welt im Ganzen ausmacht. Horcht man aber darauf, was schon die früheren Generationen über den Weg zum Frieden gedacht haben, wird man immer wieder auf den oft zitierten Ausspruch des Propheten Jesaia in der Bibel stossen: „Das Werk der Gerechtigkeit ist der Friede.“ (32, 17) Es lohnt sich, über diese Worte einen Moment lang nachzudenken.

Gerechtigkeit, soviel gleich vorweg, darf hier aber keineswegs als blosse Vertragsgerechtigkeit verstanden werden. Denn positiv gesetztes Recht trägt den Massstab von Richtigkeit oder Falschheit nicht in sich selbst. Gerecht im eigentlichen Sinn kann nicht einfach das sein, was legal ist und unrecht nicht zwingend das, was bestraft wird.

Gerechtigkeit muss vielmehr als Tugend gedeutet werden. Dieses etwas in die Jahre gekommene Wort soll uns nicht abschrecken. Es geht auch keineswegs darum, antiquierte Ausdrücke künstlich am Leben zu erhalten. Tugend meint nämlich ganz einfach und ganz im Sinne dessen, was schon Sokrates darunter verstanden hat, das Richtig-Sein des Menschen. Die rechte Ordnung im Menschen also ist die erste Voraussetzung für den Frieden. Die Tugend der Gerechtigkeit aber zielt im Besonderen auf die Ordnung des menschlichen Willens und somit der Freiheit. Der Gerechte zeichnet sich durch den festen Willen aus, einem jeden das zu geben, was ihm zusteht. Nur auf diese Weise entsteht auch Gerechtigkeit in der Gemeinschaft. Dieser Wille aber kann nicht vom Staat oder durch Gesetze erzwungen werden, er muss von innen her kommen, aus dem Herzen des Menschen. Denn Tugend besagt nicht nur Festigkeit, sondern auch Leichtigkeit und Freude im Tun des Guten.

„Einem jeden geben, was ihm zusteht“, das klingt zwar für jedermann irgendwie gut und gerecht. Doch woher wissen wir, was das einem jeden Zustehende ist? Um auf diese Frage eine Antwort geben zu können, kann ich mich – wie schon gesagt – nicht damit begnügen, in den Gesetzbüchern nachzuschlagen. Vielmehr muss ich in Erfahrung bringen, wer der andere eigentlich ist. Ich muss den Menschen nicht bloss als Träger von Rechten und Pflichten im juristischen Sinn verstehen, sondern in seinem Menschsein. Mit dem Psalmisten aus der Bibel muss ich also fragen: „Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ (8, 4-5) Wenn ich aber durch solches Fragen zu der Überzeugung gelangt bin, dass jeder Mensch eine vom Schöpfer geschenkte unveräusserliche Würde besitzt, dann verbündet sich meine Gerechtigkeit unweigerlich mit Solidarität und echter Nächstenliebe. Nur wenn ich ein ganzheitliches Bild von etwas oder jemandem habe, werde ich mich ihm gegenüber richtig und gut verhalten. Ob also Gerechtigkeit und Friede Bestand haben werden in einem Land, das hängt wesentlich davon ab, ob man die tiefste Wahrheit über den Menschen erkennt oder nicht.

Hier aber treffen wir den Punkt, an dem die Geister sich scheiden. Von einer Wahrheit über den Menschen zu sprechen, das grenzt für viele an eine anmassende Bevormundung und Einschränkung der individuellen Freiheit. Neben denen, die die menschliche Freiheit von jeglicher Normativität befreien wollen, häufen sich aber auch die Stimmen, welche die Freiheit grundsätzlich in Frage stellen, indem sie die menschlichen Entscheidungen als durch bio-chemischer Prozesse determiniert verstehen. Ob aber die Freiheit grundlegend falsch verstanden oder gleich abgeschafft wird, das spielt im Endeffekt gar keine so grosse Rolle. Bewusst und verantwortungsvoll kann die Freiheit nämlich nur dann gelebt werden, wenn sie sich ausrichtet an der Wahrheit der Dinge und des Menschen. Ansonsten ist sie blind und erweist sich als Bedrohung für den Frieden unter den Menschen.

Eheliche Untreue, Vernachlässigung der eigenen Kinder, möglichst uneingeschränktes Ausleben der Sexualität, Unehrlichkeit im Geschäft und üble Nachrede sind zugleich massive Verstösse gegen die Gerechtigkeit und die Wahrheit. Sie zerstören das Vertrauen und setzen den Frieden in den Herzen und unter den Menschen aufs Spiel. Hat man sich aber erst einmal dazu entschlossen, sich selbst und seine egoistischen Wünsche an die erste Stelle zu setzen, dann tut man sich schwer, den Blick zur Wahrheit über sich und die Welt zu erheben. Denn die Leichtigkeit der Tugend ist das Ergebnis jahrelanger Einübung, die schon mit der Erziehung beginnen sollte.

Ob es also gelingen wird, den Frieden in der Schweiz zu bewahren beziehungsweise wieder herzustellen, das hängt im Wesentlichen davon ab, ob wir die Demut aufbringen können, unsere Existenz und die Existenz des Nächsten nicht bloss als Experimentierfeld der eigenen Beliebigkeit, sondern im Horizont einer ewigen Wahrheit zu sehen und zu gestalten. Um dieses entscheidende Ringen geht es auch im Jahr 2012. Hier wird sich zeigen, ob der Friede in der Schweiz Zukunft haben kann.