Ursprünglich diente der Eurovision Song Contest (ESC) als jährlich wiederkehrender Anlass für die Zusammenarbeit der europäischen Fernsehanstalten und dem musikalischen Wettbewerb unter den Nationen. Doch was ist von dieser Ursprungsidee noch vorhanden? Hat der ESC noch eine Daseinsberechtigung? Diese entscheidenden Fragen müssen sich nach dem ESC in Basel und Malmö die Europäische Rundfunkunion (EBU) als Veranstalterin und die teilnehmenden Länder stellen. Denn diverse Gründe sprechen dafür, den ESC grundlegend zu überdenken.

Ein Kommentar von Ralph Studer

Seinen Ursprung hat der ESC im Jahr 1955. Der Vorsitzende der Programmkommission der EBU, Marcel Bezençon, schlug damals vor, einen europäischen Schlagerwettbewerb auszurichten. Durch eine europäische Gesangsshow sollte die Zusammenarbeit der Fernsehanstalten länderübergreifend gestärkt werden und die Musik als Brückenbauerin zwischen den Nationen wirken.

Was Kritiker befürchteten

Doch diese einstige Vision gehört längst einer anderen Zeit an. Spätestens 2024 in Malmö gab es eine Zäsur. Neben antisemitischen Zwischenfällen kam es – besonders verstörend – zu einem Auftritt der irischen Sängerin Bambie Thug, die offenkundig satanische Elemente in ihre „Show“ einbaute.

Bereits im Vorfeld des ESC 2025 in Basel hatten Kritiker wie beispielsweise die EDU, die den Anlass mittels Referendum verhindern wollte, vor weiteren antisemitischen Ausschreitungen gewarnt. Und sie sollten leider Recht behalten.

Schon vor dem ESC gab es deutliche antisemitische Bekundungen von Demonstranten. Deshalb war es angeraten, dass die Vertreterin Israels, Yuval Raphael, bei der Eröffnungsfeier in einem verglasten Basler Drämmli durch die Menschenmenge fuhr. Unverkennbar zeigte ein Mann, ausgerüstet mit einer palästinensischen Fahne und einem „Boycott“-T-Shirt, eine „Halsabschneiden“-Geste gegen Raphael, welche als Morddrohung zu verstehen war.

Nach dieser Störaktion liess die Polizei verlautbaren: „Wir sind vorbereitet für ein grosses Spektrum an Vorfällen, die passieren könnten.“ Und gross war nicht nur das Spektrum, sondern mit 1‘300 auch die Zahl der Polizisten aus der ganzen Schweiz, die beim ESC im Einsatz waren. Israels nationaler Sicherheitsrat warnte seine Landsleute sogar vor Reisen nach Basel.

Nochmals alles gut gegangen

Die Polizei hatte alle Hände voll zu tun. Sie wirkte deeskalierend, indem sie mit Demonstranten das Gespräch suchte, diese dezent isolierte und so Ausschreitungen verhinderte. Zudem sei, wie der Journalist Peer Teuwsen recherchierte, ein Team der Stadt Basel permanent unterwegs gewesen, um beispielsweise anti-israelische Sprayereien wieder zu beseitigen.

Während des ESC waren sogenannte Mood-Manager hinter den Kulissen tätig, um für eine gute Stimmung zu sorgen. Während des Anlasses wechselte SRF, so Teuwsen, schnell auf israelische Flaggen, wenn palästinensische zu sehen waren. In der Halle selber waren laut dem Journalisten überraschend wenige Pfiffe für die israelische Sängerin zu hören: „Kein Vergleich zu Malmö“. Dies hinderte allerdings Kritiker der israelischen Politik nicht daran, kurz vor dem Final in der Basler Innenstadt zu demonstrieren. Aufkeimende Ausschreitungen konnten dort glücklicherweise schnell beendet werden.

Angesichts dessen kann man aufatmend sagen: nochmals Glück gehabt, es ist alles nochmals gut gegangen. Es hätte aber auch ganz anders ablaufen können.

Ist die Sicherheit noch gewährleistet?

Dass ein solcher Sicherheitsaufwand für einen Musikanlass nötig ist, ist aussergewöhnlich und zeigt die tiefere Problematik. Um die Förderung von Zusammenarbeit und Musik scheint es da offenbar nicht mehr zu gehen, wenn die Sicherheit von Künstlern gewährleistet werden und die Polizei mit grossem Kontingent auftreten muss.

Ein friedliches Musikereignis, das die Menschen zusammenbringen soll, sieht anders aus. Wenn ein solches Polizeiaufgebot in Basel nötig ist, welche Vorkehrungen wird es dann beispielsweise in Wien nächstes Jahr brauchen, dem wohl nächsten Austragungsort des ESC? Wien weist eine massive Zuwanderung aus dem islamischen Kulturkreis auf und damit ist dort – wie die Erfahrung zeigt – eine erhöhte antisemitische und anti-queere Haltung zu erwarten.

Ausschluss von Künstlern aus politischen Gründen „skandalös“

Man mag zum Israel-Palästina-Konflikt stehen, wie man will. Doch ein Musikwettbewerb ist nicht der Ort, politische Differenzen auszutragen und die Stimmung so weit anzuheizen, dass sie eskalieren könnte. Vorjahressieger Nemo hatte auch dazu beigetragen. Seine Forderung zwei Tage vor der Eröffnung, Israel aus dem ESC auszuschliessen, war mehr als unklug. Zu Recht sagte der deutsche Kulturstaatsminister Wolfram Weimer, Künstler aus politischen Gründen auszuschliessen, sei „skandalös“. Die „zunehmende antiisraelische Hetze und diese Boykottaufrufe“ hielt er „für einen unerträglichen Vorgang“.

Horrende Ausgaben trotz massivem Spardruck bei SRG

Für den ESC hatte die SRG von einem Kostendach von 20 Millionen Franken gesprochen (Ticket- und andere Einnahme wie Sponsorengelder schon eingerechnet). Insgesamt belaufen sich die Ausgaben für den Anlass auf 60 Millionen Franken, wovon die Stadt Basel 37 Millionen übernimmt. Diese hohen Kosten erstaunen angesichts der desolaten Finanzlage bei der SRG und fallen besonders auch deshalb ins Gewicht, da die SRG in den kommenden Jahren 270 Millionen Franken sparen und gegen 1000 Stellen streichen muss – aus wirtschaftlichen und politischen Gründen.

ESC wird immer politischer

Trotz all der politischen Diskussionen und Konflikte bezeichnete der ESC-Direktor Martin Green den ESC weiterhin als Wettbewerb, der als ein „Raum der Freude“ dienen soll. „Ich hoffe“, so Green im Vorfeld des ESC, „dass die Eurovision in diesem Jahr das tut, was sie in den vergangenen 69 Jahren getan hat, nämlich zeigen, dass Musik uns zusammenbringen kann. Ich weiss, das klingt kitschig, aber das ist der Zweck des Wettbewerbs.“

So ermutigend diese Worte gemeint sind, so fern sind sie doch der Realität. Spätestens seit 1998 mit dem Sieg der „Transfrau“ Dana International für Israel entwickelte sich der ESC zunehmend in Richtung LGBT-Anlass. 2014 folgte der Sieg der Dragqueen Conchita Wurst, letztes Jahr gewann Nemo und dieses Jahr der österreichische Sieger JJ (mit bürgerlichem Namen Johannes Pietsch). JJ betonte an der Pressekonferenz, wie stolz er sei, die queere Community zu repräsentieren.

Wie die NZZ festhielt, erinnert JJ in vieler Hinsicht an Nemo, der sich als „nonbinär“ bezeichnet. Pietsch hat denselben Produzenten und setzt sich öffentlich für queere Anliegen ein. Zunehmend gewinnt deshalb die Frage an Gewicht, ob man künftig als heterosexueller Künstler überhaupt noch eine Chance auf den Sieg hat.

Ob es da wirklich noch um Musik geht oder doch vielmehr um Politik und Toleranz in eine Richtung, nämlich die vom Zeitgeist vorgegebene, ist wohl implizit schon beantwortet. Vielleicht kommt es beim nächsten ESC in Wien sogar zu einer queeren „Doppelmoderation“ von JJ und Conchita Wurst, wie es sich JJ anlässlich der Pressekonferenz im Nachgang zu seinem Sieg wünschte.

Musik wird zur Nebensache

Der ESC löst sich immer mehr von seinem Ursprungsgedanken und trägt mittlerweile die Handschrift der LGBT-Bewegung, die diesen Anlass für ihre Anliegen vereinnahmt.

Schrille Outfits (wie futuristische Kleider und kampfbereite Rüstungen am diesjährigen ESC) und die Performance haben die Oberhand gewonnen – je ausgefallener und schräger, desto besser.

Vielleicht ist dies auch der Ausdruck einer Gesellschaft, die selber die Orientierung verloren hat und den drängenden Problemen der Zeit ausweichen will. Vielleicht repräsentiert es einen verlorenen Kontinent, der abdriftet und den Wertekompass verloren hat. Durchaus treffend schreibt die NZZ: „Augenscheinlich gibt es modisch für diese Veranstaltung gerade fast nur zwei Möglichkeiten: Entweder man rüstet auf oder man träumt sich weg.“ Realitätsverweigerung war jedoch noch nie ein guter Ratgeber.

Der „Flaggenstreit“

Weggeträumt hätte sich vielleicht auch am liebsten die EBU nach ihrem Entscheid, dass ab diesem Jahr Künstler auf der ESC-Bühne nur noch ihre Landesflagge zeigen dürfen. Alle anderen Flaggen – sei es LGBT-, Nonbinary- oder Palästinenserflaggen – sind fortan auf der Bühne verboten. Bei Verstoss gegen diese Regel drohen Strafen bis zur Disqualifikation.

Damit wollte die EBU sicherstellen, dass Künstler politische Botschaften auf der Bühne vermeiden. Dagegen wehrte sich die LGBT-Bewegung. Roman Heggli, Generalsekretär des Schwulenverbandes Pink Cross, meinte: „Die Eurovision ist eine Feier der Solidarität und Toleranz und hat eine lange Geschichte der Unterstützung von LGBTQ+-Rechten. Das Flaggenverbot ist ein Schlag ins Gesicht.“

Man fragt sich erstaunt, warum dieser Entscheid Kritik hervorruft. Der ESC-Anlass ist kein Ereignis, bei dem es um queere und nonbinäre Anliegen geht. Dafür war er nicht gedacht. Er wurde höchstens dazu gemacht. Dass der Einfluss der LGBT-Bewegung beim ESC unübersehbar ist, verdeutlicht auch die Aussage von Green: „Eurovision braucht keine Flagge, um seine Verbundenheit mit der LBGTQ+-Gemeinschaft zu demonstrieren und zu feiern. Man muss die Show nur sehen, die Künstler:innen sehen und hören, worüber sie singen.“

Eine Rückbesinnung auf die Grundausrichtung des ESC wäre deshalb dringend angezeigt. Dann ist auch klar, dass politische Flaggen dort nichts zu suchen haben, was eigentlich selbstverständlich sein sollte

Grosszügigkeit bei Obszönitäten

Eine andere Selbstverständlichkeit ist die „Familientauglichkeit“ des ESC, von der auch die Komponisten, Textschreiber und Sänger wissen. Wer am ESC teilnehmen will, muss „obszöne oder anderweitig gegen die öffentliche Moral verstossende“ Texte abändern. So steht es im Reglement. Deshalb mutet es sonderbar an, dass immer wieder Liedtexte wegen Anstössigkeit zensiert werden müssen.

Die optisch sehr freizügigen, körperbetonten Auftritte der Sänger sind mit einem kinder- und jugendverträglichen Abendprogramm kaum vereinbar. Im Video zu ihrem Song räkelt sich Miriana Conte, welche für Malta sang, halbnackt und in aufreizenden Posen auf dem Bett. Die finnische Sängerin Erika Vikman macht mit dem Song „Ich komme“ den sexuellen Höhepunkt zum Thema. Die Journalistin Birgit Schmid bringt es auf den Punkt: „Der ESC gibt sich als Sex-Positivity-Party oder als Simulation davon: eine wilde Show, ‚wo alles kann und nichts muss‘, wie es der Begriff beschreibt. Jede Form von Sexualität wird bejaht.“ Offenbar hat unsere Gesellschaft jegliche Sensibilität für  wirksamen Kinder- und Jugendschutz verloren.

Menschen wenden sich vom ESC ab

Diese genannten Punkte bleiben nicht ohne Folgen. Mehr und mehr wenden sich Menschen vom ESC ab, wie 20 Minuten berichtete. Der ESC werde als „grösste Gay-Pride-Parade der Welt“ oder auch als „Gay Olympics“ bezeichnet. In verschiedenen Foren äusserten ehemalige ESC-Fans: „Alle wollen divers, bunt, anders wie möglich sein. Ich gucke den Zirkus nicht mehr. Es geht schon lange nicht mehr um die Musik.“

Diese kritischen Voten sind ernst nehmen. Wird der Bogen überspannt, wenden sich die Menschen nicht nur ab. Vielmehr könnte sich die Stimmung völlig ins Gegenteil verkehren und sich letztlich gegen die LGBT-Bewegung und ihre Repräsentanten selbst richten.

ESC – wie weiter?

Was am ESC aktuell gezeigt wird, ist das Spiegelbild einer Gesellschaft, eines Kontinents, der sich von seiner Kultur und seinen Werten verbabschiedet hat. Ein Abgesang auf das einstige Europa, das kulturell und werthistorisch herausstach und ein Widerschein seiner drei grossen Säulen war, die seine Identität ausmachen: dem jüdisch-christlichen Glauben, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms. Und das Erschreckende dabei ist: Kaum jemand scheint sich daran zu stören.

Wenn man all die genannten Aspekte wie Sicherheit, Antisemitismus, Politisierung, Finanzaufwand vor Augen führt, liegt zwangsläufig die Frage der Hand: Wollen wir weiterhin einen ESC, der sich politisch gebärdet und zunehmend der herrschenden Ideologie eine Bühne bietet? Braucht es den ESC überhaupt noch? Denn um Musik geht es kaum mehr, dafür aber um viel Performance und noch mehr Politik. Während sich die Verantwortlichen gegenseitig Lob zufächeln, halten Medien und staatliche Behörden an ihrer LGBT-Agenda fest, in deren Konzept sich der ESC sehr gut einfügt.

Statt dem Ursprungsgedanken von Zusammenarbeit und Musikwettbewerb haben sexuelle Minderheiten den ESC in Beschlag genommen und feiern ein fröhliches Stelldichein. Mit dieser Neuausrichtung verliert der ESC jedoch zunehmend das, was er braucht, um längerfristig überleben zu können: den Rückhalt der Menschen.