Am 19. Mai 2025 jährt sich zum siebten Mal der Todestag des als „Obdachlosenpfarrer“ bekannten Theologen, Künstler, Schriftstellers und Nationalrats Ernst Sieber. Sein unerschrockener Einsatz in der Zürcher Drogenszene haben den ehemaligen „Bauernknecht“ weit über die Schweizer Grenzen hinaus bekannt gemacht.

Von Regula Lehmann

Als Ernst Sieber am 24. Februar 1927 als Sohn eines Elektromechanikers in Horgen (ZH) geboren wurde, hätte wohl kaum jemand gedacht, dass er als Schweizer Berühmtheit in die Geschichte eingehen würde. Sieber startete seine Laufbahn als Knecht eines Bauern, besuchte danach bis 1947 die landwirtschaftliche Schule und absolvierte 1950 auf dem zweiten Bildungsweg die Matura.

Anschliessend studierte er Theologie und wurde 1956 zum reformierten Pfarrer ordiniert. Sein erstes Pfarramt trat Sieber in Uetikon-Waldegg an. Von 1967 bis zu seiner Pensionierung wirkte er als Pfarrer in Zürich-Altstetten.  Sieber war mit der Sängerin Sonja Sieber-Vassalli verheiratet, die er liebevoll „Süneli“ nannte und auf deren tatkräftige und oftmals pragmatische Unterstützung er immer zählen konnte. Vier eigene, ein adoptiertes und drei Pflegekinder wuchsen im lebhaften Pfarrhaushalt der Siebers auf.

Obdachlosenpfarrer und Schriftsteller

Erstmals auf Pfarrer Ernst Sieber aufmerksam wurde die Schweizer Öffentlichkeit im „Seegfrörni-Winter“ 1963, als Sieber in einem alten Bunker in Zürich beim Helvetiaplatz eine Unterkunft für Obdachlose einrichtete. Aus dieser Aktion entstand eine selbstverwaltete Gemeinschaft, die 1975 an die Gerechtigkeitsgasse umzog und aus der die heutige Wohn- und Arbeitsgemeinschaft „Suneboge“ mit 36 Betten und 20 geschützten Arbeitsplätzen entstand.

Die Erlebnisse jener bewegten Zeit hielt Pfarrer Sieber in seinem Buch „Menschenware – wahre Menschen“ fest. Der „Zytglogge Verlag“ verkaufte davon insgesamt 50‘000 Exemplare. Weitere Werke wie „Platzspitz – Spitze des Eisbergs“ (1991, Zytglogge) und „Licht im Tunnel“ (1998, Zytglogge) sowie einige kleineren Bändchen folgten.

Auftanken im Kunstatelier

Kraft für seine oft aufreibende Arbeit tankte der Obdachlosenpfarrer neben seinem Glauben auch beim Malen und Bildhauen. In seinem Atelier in Euthal schuf er zahlreiche Bilder und Skulpturen, die von seiner kraftvollen, aber auch sensiblen Persönlichkeit zeugen. Seine überlebensgrossen Bronzeskulpturen, die heute im Friedhof Horgen aufgestellt sind, stehen zum einen als biblische und allegorische Mahnfinger für seine theologischen Überzeugungen, zum anderen verarbeitete der Künstler darin seine Familiengeschichte.

Mit Esel in den Zürcher Jugendunruhen

Als Held gefeiert wurde Sieber im Juni 1980, als er sich anlässlich der Zürcher Jugendunruhen mit seinem Esel auf der Quaibrücke zwischen wütende Demonstranten und die Polizei stellte, um eine gewalttätige Auseinandersetzung zu verhindern. Trotz seines engagierten Einsatzes eskalierten in Zürich die Demonstrationen.

Parallel dazu setzte sich Sieber weiterhin für die von der Gesellschaft Ausgegrenzten ein. Seine öffentlichen Auftritte sorgten durch ihre Originalität regelmässig für Gesprächsstoff: Im „Wort zum Sonntag“ des Schweizer Fernsehens trat er beispielsweise einmal im Büssergewand mit Stelzen vor die Kamera, um deutlich zu machen, „wie wenig Boden wir alle zeitweilig unter den Füssen haben“.

Unermüdlicher Gründer und Pionier 

Mit seiner Organisation, die im Jahr 1988 in eine Stiftung, die heutigen „Sieber Werke SW“, umgewandelt wurde, baute Sieber zahlreiche soziale Einrichtungen auf. Ende der 1980er-Jahre begann er, sich um die Drogenabhängigen auf dem Platzspitz und am Letten zu kümmern. Im rastlosen persönlichen Einsatz versuchte er zusammen mit Freiwilligen, Süchtige von der Szene wegzubringen. Bereits 1989 wurde das Fachspital für Sozialmedizin und Abhängigkeitserkrankungen „Sune-Egge“ in Betrieb genommen, in dem bis heute schwerstkranke Drogensüchtige und Aidspatienten gepflegt werden. Das „Sunedörfli“, die Suchthilfeeinrichtung „Ur-Dörfli“ und das Gassencafé „Sunestube“ folgten kurz darauf.

„Pfuusbus“, „Sunegarte“ und „Reschteglück“

Im Winter 2002 nahm Sieber den ersten „Pfuusbus“ in Betrieb, der pro Nacht bis zu 45 Obdachlosen während der Winterzeit eine warme Unterkunft anbietet. Die Anlaufstelle „Brot-Egge“ versorgt Bedürftige mit Nahrung und bietet auf Wunsch Beratung oder Seelsorge an. Weitere Projekte der Sieber-Werke sind die Notschlafstellen „Nemo“ und „Iglu“, die Pflegestelle „Sunegarte“, das Warenlager „Bedien.di.ch“, die Wohnsiedlung „Brothuuse“ sowie die 2016 in Betrieb genommene Lebensmittelverteilung „Reschteglück“.

Gottes Liebe in Taten übersetzt

Mit scheinbar unerschöpflicher Nächstenliebe kümmerte sich Sieber trotz Enttäuschungen und Rückschlägen um Randständige, Drogensüchtige und Aidskranke. Der Zürcher Fraumünster Pfarrer Niklaus Peter schrieb in seiner Würdigung über Siebers Leben: „Ernst Sieber hat auf eine einzigartige Weise die Grundbotschaft des Christentums, dass Gott Liebe ist, nicht nur in Worte übersetzt, sondern in Taten, in ein Werk, das sich jener Menschen angenommen hat, die durch Drogen oder Alkohol auf der Strasse gelandet waren und noch heute landen.“ Wenn Evangelium Kommunikation der guten Botschaft heisse, so sei Ernst Sieber ein Kommunikator ersten Ranges, ein Beispiel von Glaubwürdigkeit, wie es wenige gebe. Für dieses Lebenswerk seien die Pfarrer der Stadt Zürich ihm dankbar.

Nationalrat ohne Hemmungen

Ernst Sieber besass das Charisma, seinen Zielen zu breiter Akzeptanz zu verhelfen. So amtierte er denn auch von 1991 bis 1995 für die EVP im Nationalrat. Am ersten Tag der Session trat er entgegen dem Protokoll noch vor seiner Vereidigung ans Rednerpult und erinnerte die Parlamentarier an die Präambel der Bundesverfassung: „Die Stärke unseres Staates lässt sich messen am Wohle der Armen.“

Im Parlament lobbyierte Sieber unter anderem für seinen Lebenstraum, das „Bundesdörfli“, und überwies am 21. September 1994 seine Motion mit einer Zustimmung von 118 zu 9 Stimmen an den Bundesrat. Doch trotz dieses Erfolgs bewegte sich in der Sache leider nichts mehr. Obwohl er seine Ratskollegen mit seinen Herzensanliegen durchaus zu berühren vermochte, scheiterte Sieber als Sozialreformer letztlich an den politischen Realitäten in Bundesbern.

Sieber als Mediator 

Von der Kraft der Nächstenliebe überzeugt, schaltete er sich immer wieder auch in politische Konflikte ein. Sowohl bei den Globus-Krawallen 1968 als auch bei den Zürcher Jugendunruhen 1980 setzte Sieber sich für die Abkühlung des aufgeheizten politischen Klimas ein.

Auch auf der Bühne der Weltpolitik engagierte sich Sieber. So versuchte er zu vermitteln, als er im Nachgang zu den Ereignissen vom 11. September 2001 zu einer Friedensmission nach Afghanistan aufbrach. Am Hindukusch wollte er zwischen Taliban und Amerikanern eine Lösung erzielen , um der Zivilbevölkerung Afghanistans einen weiteren Krieg zu ersparen. Doch leider erschien der „Aussenminister“ der Taliban nicht zum vereinbarten Treffen …

Bis zum letzten Tag einsatzbereit

Ernst Sieber mit seinem grossen Herzen für Bedürftige blieb seiner Berufung als „Anwalt der Schwächsten“ bis zu seinem letzten Tag treu. Verlangte ein Obdachloser oder eine Drogensüchtige nach ihm, war der menschennahe Seelsorger zur Stelle und nahm sich Zeit. Bei der Übergabe seines Werks an seinen Nachfolger weigerte er sich, diesem neben der Leitungsverantwortung auch seinen legendären Schlapphut zu übergeben. „Eines Tages, das kann schon morgen sein, muss ich auf dieser Erde den Hut nehmen, also brauche ich ihn noch selber“, schmunzelte Sieber. „Den Hut genommen“ hat Sieber am 19. Mai 2018. Doch die Erinnerungen an den Zürcher Obdachlosenpfarrer sind nach wie vor ein Stück lebendige Schweizer Geschichte, die in seinen Sozialwerken weiterlebt.