Am 22. Mai findet jährlich der nationale Aktionstag Alkoholprobleme statt. Dieses Jahr steht er unter dem Motto „Verstehen statt verurteilen“. Denn aus einer Sucht auszusteigen, ist alles andere als einfach. Rückkopplungsprozesse im Gehirn spielen dabei eine wichtige Rolle. Wie funktioniert eine Sucht? Und wie gelingt ein Ausstieg?
Von Ralph Studer
Menschen können verschiedenen stofflichen und nichtstofflichen Süchten unterworfen sein. Neben der klassischen Alkohol- und Drogensucht wird die Abhängigkeit von Internet und Pornografie mehr und mehr zu einem Thema, das viele Menschen im Alltag belastet und sie unfrei werden lässt.
Sucht am Beispiel des Alkoholismus
Gemäss der klinischen Psychologin und Psychotherapeutin Elisabeth Lukas liefert uns das Gehirn normalerweise eine leicht positive Stimmungslage, die sich im Wechsel der Tagesschwankungen stets wieder halbwegs einpendelt. Durch eine starke Zufuhr von Alkohol wird diese Stimmungslage dann künstlich zu einer Euphorie hochgezogen. Man wird lustig, enthemmt und waghalsig. Sinkt danach der Alkoholspiegel im Blut wieder ab, kann das Gehirn nicht einfach zur normalen Stimmungslage zurückkehren. Vielmehr kommt es zunächst zur typischen Katerstimmung (Lukas spricht von „dysphorischen Nachwellen“), bevor das Gehirn die normale Stimmungslage wieder justiert.
Tritt solch eine Euphorie durch Alkoholkonsum regelmässig ein, ist das Gehirn mit Nachjustierungen überfordert. Diese dysphorischen Nachwellen, sagt Lukas, überlappten sich, potenzierten sich und blieben eine Weile „hängen“. Bleiben die Betroffenen in diesen Nachwellen mit schlechtem Befinden verfangen, kann es zu einer gröberen Depression kommen. Zudem ist ihr vegetatives Nervensystem angegriffen. Sie schwitzen, zittern und ihre Verdauung gerät durcheinander. Begleitet wird das von negativen Emotionen: Man fühlt sich elend, gereizt, mürrisch. Um diesem belastenden Zustand zu entkommen, ist der erneute Griff zur Flasche nicht weit. Sofort lockere sich diese Dysphorie, hält Lukas fest, weil das Stimmungspegel in Richtung Euphorie ausschlage.
„Kurzfristiges Entrinnen mit langfristigen Folgen“
Die Betroffenen sitzen buchstäblich in der Falle. Sie greifen nun nicht mehr zur Flasche, um die frühere Euphorie zu erlangen, sondern um diesem bedrückenden Zustand zu entkommen. Doch dies sei, warnt die Psychotherapeutin, „ein kurzfristiges Entrinnen mit langfristigen Folgen.“ Denn je öfter sie ihr Gehirn mit Alkohol überschwemmten, desto weniger sei es ohne ein solches „Doping“ in der Lage, eine erträgliche Stimmungslage wieder zu erlangen bzw. Energie für ein konstruktives Selbstmanagement im familiären oder beruflichen Umfeld zu liefern. Bei stoffungebundenen Süchten wie Spiel- oder Pornografiesucht ist es das Verhalten, das immer öfter gezeigt wird, um den negativen Gefühlen zu entrinnen.
Zudem versuche der Organismus, die entstehenden Defizite durch eine hochgeschraubte „Giftfestigkeit“ zu kompensieren, was dazu führe, dass immer stärkere Dosen an „Gift“ eingenommen werden müssten, um wenigstens noch ein Minimum an Euphorie bzw. Entrinnen aus der Dysphorie zu erhaschen.
Ein heroischer Akt
„Wer aus einer Alkohol- oder sonstigen Drogenabhängigkeit aussteigen will“, so Lukas, „muss eine grässlich lange Periode des Schlechtergehens mit sämtlichen miserablen physischen und psychischen Zuständen, die damit verbunden sind, auf sich nehmen.“ Dies auszuhalten und durchzustehen, ist ein heroischer Akt. Ein Mensch, der dies geschafft hat, ist ein „Held erster Klasse“, betont Lukas mit Nachdruck. Er habe Standfestigkeit bewiesen in einer ausserordentlich schwierigen Zeit. Sein geschädigtes Gehirn sei ihm dabei keine wirkliche Stütze gewesen. „Es hat ihm“, so die Psychotherapeutin, „weder Willenskraft noch eine bekömmliche Stimmungslage präsentiert, und trotzdem ist er konsequent auf Gesundungslinie geblieben. Dazu kann man ihm nur gratulieren!“
Willenskraft aufbringen und stärken
Auch wenn die Willenskraft in diesen Phasen schwach ist, ist es doch möglich, seiner Sucht die Stirn zu bieten. Entscheidend ist, ob es gelingt, den Suchtkranken zu motivieren, das „Martyrium des Entzugs“, wie Lukas sagt, auf sich zu nehmen. Die entscheidende Frage dabei ist „Wozu sollen sie dies tun?“. Die Erfahrung zeigt, dass das „Liebesmotiv“ hier am hilfreichsten ist.
Lukas berichtet von einem eindrücklichen Beispiel: Ein Mann suchte sie auf, weil er sich das Rauchen abgewöhnen wollte. Seine Tochter war ebenfalls der Zigarette verfallen und bereits lungenkrank. Die Ärzte hatten ihr ein striktes Rauchverbot auferlegt, an das sie sich jedoch nicht hielt. Auf ihren Vater hörte sie nicht, da er ihr in dieser Hinsicht überhaupt kein Vorbild war. Der Mann wollte sich ändern, um seine Tochter durch sein eigenes Leben zu animieren, mit dem Rauchen aufzuhören.
„Haben Sie ein Foto von Ihrer Tochter bei sich?“, fragte Lukas den Mann. Sie nahm das Foto, das er ihr reichte, und heftete es per Klammer an seine Zigarettenpackung. Dann riet sie ihm: „Wann immer Sie wieder das Bedürfnis haben, sich eine Zigarette anzuzünden, greifen Sie nur zu dieser Schachtel, schauen Sie Ihrer Tochter auf dem Bild tief in die Augen – und dann entscheiden Sie sich bewusst, ob Sie eine Zigarette aus der Packung herausziehen und rauchen, oder ob Sie die Packung in Ihr Sakko zurückstecken.“ Der Mann hörte schlagartig mit dem Rauchen auf und teilte der Therapeutin einen Monat später mit, dass sein Sieg über das Rauchen seine Tochter sehr beeindruckt habe.
Nicht mehr rückfällig werden
Wie dieses Beispiel zeigt, kann tätige Liebe die notwendige Motivation und Kraftquelle sein, seiner Sucht ein Ende zu setzen. Auch andere Fälle zeigen dies deutlich: So sind drogensüchtige junge Frauen imstande, sich von ihrer Drogensucht zu befreien, wenn sie schwanger werden und ihr ungeborenes Kind vor Schädigungen bewahren wollen.
Ist die Sucht überstanden, ist die Gefahr der Rückfälligkeit nicht zu unterschätzen. Es ist wichtig, das „Leben danach“ von Grund auf neu zu formen. Eine effiziente Rückfallprophylaxe ist deshalb angezeigt. Dabei bauen Sport und gezielte Fitnessübungen den Organismus der ehemals Süchtigen laut Lukas wieder auf, durchbluten fleissig ihr Gehirn und beseitigen so manche Restschäden. Entspannungstechniken wirken beruhigend, wenn sie von sogenannten „Flashbacks“ geschüttelt werden, also unvermittelt von nervöser Unrast und dem heissen Verlangen nach dem Suchtmittel überfallen werden und glauben, nicht widerstehen zu können.
Hilfreich, um Rückfälle zu vermeiden, sind auch Gespräche mit dem Fokus auf den Sinn. Sinn, der das frühere Leben des ehemals Süchtigen durchzogen hat und für die Gegenwart wieder reaktiviert wird: namentlich Beziehungen wieder pflegen, eigene Kompetenzen neu entdecken, Ideen für Projekte entwickeln und letztlich eine positive Einstellung zu den Herausforderungen eines abstinenten Lebens festigen. „Damit“, so Lukas, „sind sie dem enormen Verzicht, der ihnen als Preis fürs Gesundbleiben abverlangt ist, gewachsen.“
Verzicht ist unentbehrlich
Auch wenn das Wort „Verzicht“ in unserer heutigen Gesellschaft einen schalen Beigeschmack hat, geht Abstinenz nicht ohne Verzichte. Ein genauerer Blick auf die Sucht zeigt, dass diese letztlich eine Abhängigkeit von „angenehmen Gefühlen“ darstellt, während gleichzeitig lästige Probleme weggedrückt werden. Zu einem normalen Leben gehören allerdings gerade auch das Aushalten und Durchhalten können von widrigen Umständen.
„Man muss auch schlechte Gefühle ertragen können“, sagt Lukas. Ein Alkoholiker fühle sich gut, wenn er Schnaps getrunken habe, und fühle sich schlecht, wenn er keinen getrunken habe. Und doch sei es gerade umgekehrt für ihn schlecht, wenn er Schnaps getrunken habe und gut, wenn er darauf verzichtet habe. „In der Wirklichkeit“, so die Psychotherapeutin, „kommt es auf das Sein an und nicht auf den Schein bzw. Widerschein in den Gefühlen.“
Deshalb rät Lukas auch zu „Bremsproben“ wie dem Einhalten von Fastenzeiten oder gelegentliche freiwillige Verzichte. Gerade für die Jugendlichen, die sich an den Handykonsum gewöhnt haben und ohne das Mobilgerät kaum mehr leben können, wäre dies empfehlenswert. Es heisst, dem Trend des Zeitgeistes, dem leider auch viele Erwachsene erliegen, zu widerstehen. „Verzichten können“, schliesst Lukas, „macht souverän und selbstständig. Nicht verzichten können macht abhängig und unfrei.“