Nur allzu gern werden Männer heute für jegliches Übel in der Welt verantwortlich gemacht. Dabei reicht bereits ein Blick in den Alltag, um die Wichtigkeit von Männern zu verdeutlichen: Männer schleppen die schweren Waren in der Nacht in die Supermärkte, reparieren Dächer, Stromleitungen und Strassen, verrichten die gefährlichsten Arbeiten im Hochbau und Katastrophenschutz und vieles mehr. „Das alles wird weder gewürdigt noch verdankt“, so Walter Hollstein, emeritierter Professor für Soziologie.
Bei der Frage nach der Gewalt zeigt sich Ähnliches: Gewalt komme nur von Männern. Sie tyrannisierten die Frauen und ihre Familien, hört man oft. Doch entspricht dieses einseitig gezeichnete Bild auch der Wirklichkeit? Ralph Studer von Zukunft CH fragt nach und spricht mit Stefan Kuster, der seit einigen Jahren in der Männerarbeit tätig ist.
Zukunft CH: Unter häuslicher Gewalt leiden nur Frauen, ist die gängige Sichtweise. Wie sind Ihre Erfahrungen?
Kuster: Dem ist nicht so. Rund ein Drittel aller von häuslicher Gewalt betroffenen Menschen sind Männer. Männer erfahren im häuslichen Kontext auch Gewalt durch Frauen. Als Junge durch die eigene Mutter oder später durch die Partnerin/Ehefrau. Erst kürzlich berichtete die Sonntagszeitung von einem erschütternden Fall, wo die Mutter ihren eigenen Jungen misshandelte.
Zukunft CH: Aus Ihrer Antwort wird deutlich, dass auch Frauen Gewalt ausüben. Dies bringt das in unserer Gesellschaft gängige Welt- und Menschenbild „Frauen als Opfer, Männer als Täter“ ins Wanken. Ist das Thema „Gewalt von Frauen“ immer noch ein Tabuthema?
Kuster: Ja. Dass Frauen Gewalt an Männern ausüben, ist nach wie vor ein Tabuthema. Man versucht sich dann eine brutale Frau vorzustellen, die ihren schwachen Mann misshandelt. Dieses Bild passt überhaupt nicht zu den zementierten Rollenbildern, wonach Frauen schwach und Männer stark seien. Für den Mann ist es doppelt schwierig, denn falls er sich wehren würde, wird er rasch zum Täter. Neben der physischen Gewalt, wo es durch Gegenstände und Waffen wie beispielsweise Küchenmesser oder Scheren zu Stich- und Schnittverletzungen kommt, üben Frauen häufig psychische Gewalt gegen Männer, die langfristig nicht weniger schädlich ist.
Zukunft CH: Zwischen 2009 und 2022 ging laut Bundesamt für Statistik die Zahl der von Gewalt betroffenen Männer im Bereich häusliche Gewalt stark nach oben. Von rund 2300 stieg die Zahl auf knapp 3400. Männer machten 29,8 Prozent aller Opfer aus. Woran könnte dies liegen?
Kuster: Einerseits liegt es daran, dass die Zahlen von Gewaltdelikten grundsätzlich zunehmen. Andererseits werden heute Gewaltdelikte an Männern vermehrt durch die Männer selber gemeldet und entsprechend erfasst. Aber es gibt nach wie vor eine hohe Dunkelziffer.
Zukunft CH: Wenn eine Mutter zu Hause ihre Kinder misshandelt: Welche Chance hat ein Vater, dazwischen zu gehen, ohne selbst zum Täter zu werden?
Kuster: Um nicht selbst zum Täter zu werden, darf natürlich keine Gegengewalt angewendet werden. Gewalt ist nie eine Lösung. Hilft eine klare Ansage an die Mutter der Kinder nicht, hat der Vater die Möglichkeit mit den Kindern vorübergehend ein Schutzhaus für Männer aufzusuchen, wie es z.B. der privat organisierte Verein „ZwüscheHalt“ an den Standorten Zürich, Bern und Luzern anbietet.
Zukunft CH: Es macht den Eindruck, dass Frauen bei Rechtsstreitigkeiten juristisch in der stärkeren Position sind, während Männer bei Behördenangelegenheiten fast nur verlieren können. Würden Sie dieser Sicht zustimmen?
Kuster: Selbst wenn hier auf das Gleichstellungsgesetz verwiesen würde und die Gleichbehandlung der Geschlechter als Voraussetzung angenommen werden könnte, ist es dennoch so, dass die Behörden in erster Linie die Frauen vor den Männern schützen. Der Mann dagegen befindet sich oft in der Rolle desjenigen, der sich erklären muss. Es liegt m.E. daran, dass das Bild Mann = Täter, Frau = Opfer nach wie vor vorherrscht.
Zukunft CH: Könnten Sie dies an einem Beispiel erläutern?
Kuster: Frauen werden in der Gesellschaft generell als schwächer und daher schützenswerter erachtet als der Mann. Auf die Evolution bezogen trifft dies vor allem in der Schwangerschaft zu. Diese Sichtweise ist interessanterweise konträr zum politischen Mainstream und dem modernen Feminismus, welche die Frauen in allen Belangen auf gleicher Stufe sehen wie den Mann, also auch körperlich. Konkret wirkt sich das bei häuslicher Gewalt beispielsweise darin aus, dass die Polizei in der Regel zuerst den Mann aus dem gemeinsamen Haushalt wegweist. Die Kinder werden selbst dann in der Obhut der Mutter belassen, wenn vermutet wird, dass sie Gewalt gegen die Kinder ausübt.
Zukunft CH: Was raten Sie Männern in solchen Situationen?
Kuster: Männer, die häusliche Gewalt erleben, tun gut daran, dies zu dokumentieren und Beweise zu sichern. E-Mails, Chat-Verläufe, Fotos von betroffenen Körperstellen sollten an einem sicheren Ort abgespeichert werden. Ich rate auch dazu, ein schriftliches Tagebuch zu führen oder, falls das nicht möglich ist, Sprachnotizen aller Erlebnisse aufzunehmen. Aber in erster Linie sollte der Mann klar zum Ausdruck bringen, dass er ein Recht auf Schutz seiner Persönlichkeit und körperlichen Unversehrtheit hat. Er sollte eine für ihn bedrohliche Situation lieber früher als später verlassen.
Zukunft CH: Wie reagieren aus Ihrer Sicht Behörden und andere Organisationen, wenn sich Männer wegen häuslicher Gewalt melden und Hilfe suchen?
Kuster: Hier kann ich aus der Erfahrung meiner Arbeit für den zuvor erwähnten Verein „ZwüscheHalt“ berichten. Mit einigen Behörden wie z.B. Opferberatungsstellen findet eine sehr gute Zusammenarbeit statt. Dies ist aber regional sehr unterschiedlich und hängt schlussendlich von den jeweils zuständigen Personen ab. Insgesamt müssen wir jedoch feststellen, dass uns Behörden noch nicht wirklich in ihre Aktionen und Hilfsangebote aufgenommen haben und proaktiv empfehlen. Männer werden nach wie vor belächelt.
Zukunft CH: Beruflich waren Sie einen grossen Teil Ihres Lebens in der Architektur-, Bau- und Immobilienbranche tätig. Was hat Sie persönlich dazu bewogen, ihren bisherigen Job aufzugeben und sich für die Männerarbeit zu engagieren?
Kuster: Ich habe selber Lebenskrisen wie eine Scheidung oder gesundheitliche Probleme erlebt und dabei sehr viele Erfahrungen gesammelt. Ich habe erkannt, dass ich als Gestalter mein Leben selber in die Hand nehmen kann. Deshalb habe ich begonnen, an mir selber zu arbeiten, anstatt an nicht veränderbaren Umständen. Ein wesentlicher Teil davon war meine Auseinandersetzung mit der Frage meines Mannseins. Wo mir Männer früher eher als Konkurrenten begegnet sind, wurden sie für mich zu Brüdern und zu einem Quell der Verbundenheit und Heilung.
Zukunft CH: Wenn Sie auf Ihre bisherigen Erfahrungen in der Männerarbeit zurückschauen, was hat Sie am meisten überrascht und bewegt?
Kuster: Etwas salopp gesagt sind Männer auch nur Menschen. Und als Menschen sollten wir uns gegenseitig behandeln. Männer haben einen erstaunlich tiefen Zugang zu sich selbst, wenn das Umfeld diese Öffnung zulässt. Ich versuche, solche Umfelder zu schaffen und werde immer wieder mit sehr berührenden Erlebnisberichten beschenkt.
Zukunft CH: Vielen Dank für das Gespräch.